Der freudlose Gürtel.

 

Sprachliche und symbolische Repräsentationen der Prostitution in Wien

 

Der Gürtel war einmal der Boulevard des Roten Wiens. Rot ist er heute immer noch, aber rotlichtrot. Mit beiden Bildern verbinden wir Schönes und Häßliches, wollen neugierig hin und verstohlen wegschauen. Gemeinsam ist ihnen, dass sich der Staub über sie gelegt hat, der Feinstaub der Vergesslichkeit und des Liegengelassenen. Ein Spaziergang.

 


fun4all. 

So lautet die Website des Pornokinos am Währinger Gürtel. Spaß signalisieren aber weder die Seite noch das Kino selbst. Im Internet wird nüchtern informiert, dass es einen großen Saal, zwei kleinere Säle und einen privaten Raum gibt, während sich ein nackter weiblicher Torso dezent am oberen Seitenrand räkelt. Zurückhaltung wird hier vorgegeben, von Erotik statt Pornografie ist die Rede, von Intimität und Zweisamkeit statt von Sex. Am Kino werben karge Ankündigungen mit Aktionen »3 Säle – 3 Filme – 1 Preis«, deren Bildinhalte sich geheimnisvoll verblichen hinter einer dicken Staubschicht verbergen. Kein Anzeichen der vermeintlich hemmungslosen Lust, der Mann sich drinnen hingibt (Frauen sind trotz freien Eintritts selten). Nur Spuren der Zeit und des Verkehrs, der auf dem Gürtel nie zum Stillstand kommt – im Gegensatz zum Kino, das täglich um 22 Uhr und bald aufgrund des grenzenlosen und entgrenzten Internetverkehrs wohl für immer schließt.


Staub. 

Das ist zu finden, wenn man heute am Gürtel nach Sex sucht. Die Rotlichtlokale haben ihre ganz eigene Feinstaubproblematik, an der die Zeichen der Zeit abzulesen sind. Kein »Außen hui, innen pfui«. Offen zutage tritt nun, was die Gesellschaft schon immer wusste: Sex ist ein dreckiges Geschäft. Vorbei scheint die Ära, als ein Bordell sich als glanzvolles Etablissement verstand, in dem der leibliche Genuss mit Champagner bekrönt wurde. Die edlen Schutzpatroninnen wie Aphrodite, die als kunststeinerne Türfiguren den Eintritt der Gäste segneten, sind nur noch historisierende Fragmente einer erstarrten Repräsentationssymbolik. Endgültig flaue Sozialromantik ist der Ehrenkodex, der die Beziehungen zwischen den Ederls und Heinzis und den Mizzis und Michèles regelte. Die Schaufenster, hinter denen Letztere in universalverständlicher Sprache mit ihrem Körper lockten, sind uneinsehbar. Der Straßenstrich ist vom Gürtel verschwunden.

Wien ist im 21. Jahrhundert angekommen: Der Gürtel ist keine Randzone mehr. Die von so vielen Geliebten und von der Gesellschaft ewig Ungeliebten werden dorthin verbannt, wo zwielichtige Erscheinungen der öffentlichen Meinung nach hingehören, an abgelegene Orte der Stadt, an denen sie nicht gesehen werden und kein Mensch, sondern nur solche wie sie, also Niemand ist. Die Frauen verschwinden im Dunkel der Nacht und schicken vielleicht, weil ihnen der Laut so selbstverständlich über die Lippen kommt, einen Stoßseufzer zum Himmel, wenn sie unbeschadet wieder daraus hervortauchen. Denn wo niemand ist, ist bekanntlich auch kein Schutz. Es ist anzunehmen, dass obwohl die Lokale ihre Klienten gerne mit »Gentlemen« ansprechen, solche unter den Freiern die Ausnahme bilden. Die Frauen werden noch leichter zur Schutzbefohlenen eines Zuhälters, dessen Stand in der Belle Epoque des Gürtels durchaus selbstbewusst »Strizzi« lautete. 

An den neuen Plätzen ist nicht nur niemand, sondern auch nichts. Doch wofür Zimmer und Sanitäranlagen, denken die ScheinmoralistInnen und SittlichkeitshüterInnen, wenn einer Nutte, gleich ob sie heute Sexarbeiterin genannt wird, auch Wasser nicht helfen kann, sich von den Spuren ihrer Schicht reinzuwaschen. Die Prostitution, die im ureigensten Sinne eine städtische Angelegenheit ist, verträgt sich nicht mit heutigen urbanen Konzepten und wird zwischen Kontrolle, Verdrängung, Aneignung und Verklärung des öffentlichen Raums zerrieben. Für die SexarbeiterInnen bedeutet das: Aus den Augen, aus dem Sinn. Und Staub wirbelt das Thema ohnehin nur in Wahlkampfzeiten auf.


Girls und Gents.

Indes bleibt am Gürtel der Staub auf den Scheiben unberührt, sodass immer diffuser wird, was drinnen vor sich geht. Seitdem sich der letzte Rotlichtkönig vor wenigen Jahren zur Ruhe gesetzt hat, herrscht ein Machtkampf. Die eingesessenen Bordellbetreiber verlagerten ihr Geschäft in die Innenstadt und am Gürtel rotieren seither die BesitzerInnen. Zwischen Westbahnhof und Josefstädter Straße liegt die höchste quantitative und qualitative Angebotsdichte an Bars, Clubs, Nachtclubs, Shows, Cafés, Studios, Laufhäusern, Kinos ... Auf einen Nachtklub, der nicht irgendein Puff sein will und ein stilvolles Ambiente für anspruchsvolle Genießer ausstrahlt, kommen viele andere, die sich nicht darum kümmern, ihren Auftritt zu gestalten oder die Schäbigkeit der Gebäude zu kaschieren. Die Fassaden zeigen Risse, die Scheiben Sprünge, der Lack blättert von den Schildern, auch wenn darauf »Neuübernahme« oder »Neueröffnung« steht. 

Im Tageslicht verflüchtigt sich das Blinken, der an den Türen und Fenstern angebrachten Leuchtschilder, die nicht nur in dieser Branche und nicht nur in dieser Stadt »Open« verkünden. In der Nacht allerdings, wenn alle Makel grau sind, beginnen die Bars des Gürtels mit verführerischen Leuchtsignalen und geöffneten Türen, um Einkehrer zu werben. Die Mode der Neonschrift ist hier keineswegs vorbei, sondern konstitutives Element einer Sprache der erotischen und sexuellen Annäherung. Wenn es draußen dunkel wird, öffnen die Türen zu kaum weniger dunklen, nur diskret beleuchteten Räumen und lenken den Blick auf wartende Frauen diversen Alters und unterschiedlicher Couleur, die intern »Mädchen« und draußen auf den Scheiben »Girls« genannt werden. »Girls, Girls, Girls … so hop on the world is swinging … they know how to please a man.«

Gewartet wird im Sitzen, an der Theke auf Barhockern aufgereiht, das Profil des Oberkörpers und die Beine zur Tür gewandt, oder in schweren dunklen Ledersesseln versinkend und damit symbolisch das vorwegnehmend, was der Mann in ihnen soll. Eine kurzhaarige blonde Frau in weißem Hosenanzug und roten Stöckelschuhen mit filigran und zugleich bedrohlich wirkenden Stiletto-Absätzen bildet die Ausnahme, während die anderen Frauen allesamt lange Haare und enge, weit über den Knien endende Kleider in zumeist bunten und kräftigen Farben tragen. Einige Etablissements halten die Tür geschlossen und spicken sie mit Zetteln, auf denen in wenigen Worten das Nachtangebot verkündet wird: Vicky und Sonja sind »neu«, Flori ist »hot« und Sofia »black«. Ein paar Schritte weiter fotoposieren Nicole und Helga, die für Kabinensex zur Verfügung stehen, ihre Brüste knetend und einen stöhnenden Rundmund zum Schriftzug »Come in« formend. »Klimatisiert« steht auf der Scheibe daneben – und in gewissem Widerspruch zum angepriesenen »hot«.

Die Namen der Einrichtungen präsentieren sich manchmal mehr, manchmal weniger explizit. In der Piano Bar oder im Manhattan ließe es sich auch ganz gewöhnlich Cocktails trinken, in der Bar Haus 6 spricht der Name Programm. Okay gibt den Kunden und womöglich auch den Frauen zu verstehen, dass es in Ordnung ist, was sie tun. Trotz obligatorischem »Hot Girls«-Versprechen und der Zeichnung eines ekstatisch bewegten, beinah medusenhaften Frauenkopfes zeigt die Bar Jaqueline eine Anmutung von französischem Charme und macht neugierig: Heißen dort alle Frauen Jaqueline oder gibt es darin die eine ultimative Jaqueline oder firmiert unter diesem Namen die Mutter des Hauses? Französische Namen gelten wohl nach wie vor als sprachliche Kondensation von Erotik. Mit naiver Unbedarftheit gingen ein Gentlemen‘s Club als Treffpunkt Zigarre rauchender Elitemänner und eine Asia Massage als TCM-Institut durch, bis ein Besuch im virtuellen Netz alle unbefleckten Gedanken beseitigt und einen aufstrebenden, kirschblühenden Sektor offenbart. Auch in diesen Studios finden sich ausnahmslos »tolle Girls«, die nymphenkonform »stillen Wassern« entsteigen und sich mal in „leidenschaftliche Liebhaberinnen« und mal in »geile Luder« verwandeln. Von Zungenmassage über Ganzkörpernacktmassage bis zum »Fullservice« bieten sie alles, um Körper und Geist auf ihre traditionelle Weise in Einklang zu bringen. Die zeitgenössische Bewertungssucht trifft auch sie: »Zart und willig, etwas zu pedantisch auf Hygiene und Gummi bedacht und das Stöhnen wenig überzeugend«’, urteilt ein Kunde im Forum.


Sex & Gender.

Das Stöhnen, Seufzen, Ächzen – die Kommunikation in gepressten und gehauchten Selbstlauten ist die universale Verkehrssprache der SexarbeiterInnen. Unter ihnen mag es Sprachtalente geben, denen der richtige Tonfall auf der Zunge liegt, und andere, die ihn sich durch stete Wiederholung aneignen und perfektionieren müssen. Das älteste Gewerbe der Welt hat ein archaisches Vokabular, das jedermann versteht und das gerne animalische Urständ feiert. Der Freier tritt als Jäger auf, der schon mal wenig verhalten, dafür umso geladener auf eine »geile Drecksau« pirscht. 

Der Schuss trifft das Opfer mitten in die Eingeweide, die der Frau aber ohnehin nicht mehr gehören, denn »Opfer« sind eine öffentliche Angelegenheit, um deren Vertretung Politik, Exekutive, NGO‘s und andere Gruppen ringen. Gleich ob die Frauen und Männer den ihnen dargebrachten Status annehmen, ganz gleich ob sie sich SexarbeiterIn, Dirne, Hure, Callboy … nennen. Aber Opfer sind ohnehin immer Erleidende und verfügen über keine Deutungs- und Benennungsmacht. So bricht in ihrer vieler Namen die ganze Stadt den Stab über der Prostitutionsfrage, die sich schon längst zu einer Geschichte von der Henne und dem Ei ausgewachsen hat. Sollen wir als liberale fortschrittliche Gesellschaft des 21. Jahrhunderts Sexarbeit verbieten, weil (Frauen-)Körper nicht veräußerlich sind und auch nicht käuflich sein dürfen? Oder verstehen wir Sexarbeit wie jede andere Dienstleistung und zielen darauf, sie in bestmögliche arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen zu stellen? Dabei zeigt sich: Mitunter wollen die »Gefallenen« gar nicht gerettet werden, sie fordern Entkriminalisierung, soziale Absicherung, Recht auf Selbständigkeit und auf öffentlichen Raum. »Normal« im Hinblick auf Menschenrechte und eine differenzierte Gesellschaft mündiger Subjekte wollen sie sein, nicht Opfer, nicht Objekt und nicht Grenzfall. Doch widerspricht es nicht der Menschenwürde, wenn Menschen(-körper) nach einem Warenwert bemessen werden und von Freiern sowie ZuhälterInnen wie ein Gegenstand behandelt werden, fragen die ProstitutionsgegnerInnen. 

Die Identitäten der SexarbeiterInnen sind im wahrsten Sinne des Wortes Geschlechtsidentitäten, die sich die AkteurInnen in einer schauspielerischen Königsdisziplin aneignen und je nach Bedarf mit ihrem Künstlernamen an- und ablegen. Eine Helga verspricht andere Genüsse als eine May. Die Rolle der Flori will anders angelegt sein als jene der Monique. Gespielt wird aber immer mit vollem Einsatz, dem Körper. »Die Nacht entkörpert; der Tag entseelt«, gilt nicht für SexarbeiterInnen. Der Körper wird an den Gürtellokalen überraschend zurückhaltend und zumeist nur schemenhaft in Szene gesetzt: skizzenhafte Zeichnungen einer weiblichen Gestalt in prototypischen, idealen Proportionen, die Ahnung eines erotisierenden Körperteils, enigmatische Hochglanzdrucke, die möglicherweise gleich einem Rohrschachtest für den Sex prädestinierte Körperöffnungen chiffrieren. Unweit des Westbahnhofs wirbt eine Bar mit einem Plakat »Girls for Nightclub Wanted« und zeigt das Bild einer Frau in der Aufmachung eines Models oder Popsternchens, das einer Christina Aguilera irritierend ähnlich sieht. Die Grenze zu Unterhaltungsindustrie und Konsumwerbewelt ist nur graduell. »Sex sells« da wie dort, volllippige Kussmünder immerfort … »so rote Lippen soll man küssen, Taa-aag und Nacht …«


Rot ist die Aufklärung.

Rot ist das Geschäft mit dem Sex – rotes Licht, rote Schilder, rote Leuchtschrift, rote Einrichtung, rote Rosen –, rot wie die Liebe. »Rot, rot, rot sind alle meine Kleider; rot, rot, rot, ist alles, was ich hab. Darum lieb ich, alles was so rot ist, weil mein Schatz ein roter Reiter ist.« Rot wie die Stadt, in der die Prostitution immer mehr als ein rotes Tuch gilt. Tendenziell konservativer und prüder gibt sich der staatliche und subjektive Sittenkodex unserer Zeit. 

Zwar ist in einer aufgeklärten Gesellschaft Sex nicht zwangsläufig an Liebe gebunden, aber sich dafür bezahlen zu lassen, übersteigt die Vorstellungen des guten Tons, der einer gewissen Romantik nicht entbehren kann. Rot wie Blut ist das Erwachsenwerden, besonders wenn Mensch ein Mädchen ist, stets in Gefahr, eine Schlampe zu sein. Auf der anderen Seite manifestiert sich moralische Doppelbödigkeit in der Rechtfertigung und Verklärung von Männerhandlungen: Der Besuch in einem Bordell als Initiationsritus des Jugendlichen? Eine Inspirationsquelle von Dichtern und Denkern? Die Entladung männlicher Triebe? Für Sex zu zahlen, kann sogar Mitleid erregen … »Wenn man für Liebe bezahlen muss, nur um einmal zärtlich zu sein«. Jenseits von Eden die Frauen, die tiefer gefallen sind als Eva und auch die, folgt man rosaroten Filmphantasmen, nur von einem Mann – einem Gentleman – gerettet werden können. Wenn nicht gerade sie die Gemeinschaft vor den Männern, die ihre Triebe nicht unter Kontrolle haben, schützen. Wohin sonst mit all den ultramaskulinen Energien? 

Der Gürtel ist keine Randzone, doch er scheint ein Niemandsland geworden zu sein. Eine Gesellschaft ist daran zu messen, wie sie zur Frage der Sexualität steht, könnte mit einem Gelehrten aus dem traditionellen Land des Lasters gesagt werden. »Was verlangen wir vom Sex jenseits seiner möglichen Lüste, daß wir ihn uns so eigensinnig in den Kopf setzen?« Über den Umgang mit Sexualität werden Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen, Jungen und Alten, Eltern und Nachkommen, Behörden und Bevölkerung … sichtbar. Ist das Bröckeln der Gürtelfassaden also ein Spiegel unseres brüchigen sozialen Gefüges? Die Bekämpfung der Prostitution geriert sich als Kampf gegen rote Windmühlen, als Konflikt zwischen Konsum und Idealismus, zwischen Traum und Wirklichkeit einer idealen Gesellschaft. Freudlos harrt der Gürtel einer Zeit, in der Freudenhäuser ihrem Namen aus Sicht aller Beteiligter gerecht werden.