„Die Menschen warteten auf so etwas was wir sind“

 

Die »NOlimpia«-Kampagne (No Olympia) ist das erste Projekt der Momentum-Bewegung in Ungarn. Momentum möchte sich als Partei formatieren und 2018 den Sprung ins Parlament schaffen. Sie gelten als Hoffnungsträger der ungarischen Jungen und Liberalen. Anna Orosz, 27, ist seit einem Jahr dabei.

 

[caption id="attachment_1093" align="alignnone" width="1024"] credit: momentum[/caption]

 

x Wie sind Sie zu Momentum gekommen?

Momentum wurde vor zwei Jahren gegründet, von zehn Leuten. Heute sind wir 143. Ich selbst war keine der Gründerinnen, ich kam erst vor einem Jahr dazu. Wir alle arbeiten gratis und freiwillig.

 

x Wie kam es dazu?

Ich habe Wirtschaft in Budapest und in Berlin studiert, mehrere Praktika gemacht und in der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn als Stipendiatin gearbeitet. Vor drei Jahren bin ich zurückgekommen und war ich sehr enttäuscht über die Situation in Ungarn. Die Atmosphäre war so negativ, alle waren am reden, wie schlecht alles ist. Aber etwas dagegen machte keiner. In Deutschland habe ich gelernt, dass zivile Beteiligung Teil des Lebens ist und das wollte ich auch in Ungarn einbringen. Vor einem Jahr habe durch einen Freund von Momentum erfahren und dachte, das ist es.

 

x Wie ist Momentum organisiert?

Es gibt einen Präsidenten, [zur Zeit ist das András Fekete-Györ, Anm. d. Red.], einen Vorstand aus fünf Personen und ein Management. Ich bin Teil des Managements. Jedes weitere Mitglied arbeitet inhaltlich an verschiedenen Themen, wie Bildung, Gesundheit, wirtschaftlichen Themen oder kümmert sich um Kommunikation nach außen, unsere technische Infrastruktur oder Veranstaltungen. Die beiden letzteren sind derzeit im Dauereinsatz wegen der »NOlimpia«-Kampagne.

 

x Wie sind Sie ins Management gekommen?

Ich musste mich bewerben, aber ich bin von der Direktion vorgeschlagen worden. Wir haben regelmäßige Treffen aller Mitglieder und die wählen die einzelnen Positionen.

 

x Was mögen Sie an der Regierung nicht?

Die Frage könnte auch lauten: Was mag ich an der Regierung? Nichts. Ich lehne alles ab, wofür sie steht. Die sind korrupt, haben keine Expertise, arbeiten nicht transparent. Die Außenpolitik ist Mist. Ich kann es gar nicht beschreiben. Wir machen mit Russland und Aserbaidschan gemeinsame Sache, das sind überhaupt keine demokratischen Länder und sollen unsere Vorbilder sein? Unsere Regierung ist chauvinistisch, es gibt kaum Frauen und Männer vertreten keine Frauenrechte. In den letzten sechs Jahren war alles, was in den internationalen Medien über Ungarn geschrieben wurde, negativ, weil es schlicht nichts Gutes zu berichten gibt! 

 

x Ist die Wahl 2018 für Momentum ein Thema?

Wir haben die Basis für ein Parteiprogramm erarbeitet. Das ist allerdings noch nicht öffentlich, da uns derzeit die »NOlimpia«-Kampagne wichtiger ist. Mit der Kampagne haben wir überhaupt erst begonnen, öffentlich wirklich aufzutreten. Und das ist eigentlich ein Problem, denn es ist eine Negativkampagne, weil etwas verhindert werden soll. Aber die Olympischen Spiele kann sich Ungarn einfach nicht leisten und nicht nur das, wir könnten das Geld so viel sinnvoller einsetzen, in den Bereichen Gesundheit, Wohnungen, Infrastruktur, gegen Armut.

 

x Wie wird Momentum in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

In den letzten zwei Jahren war es sehr einfach, Menschen für uns zu begeistern, weil so viele Ungarn von der Regierung desillusioniert sind. Wir sind attraktiv, jung, wollen etwas Positives für unser Land und in Ungarn bleiben. Irgendwie hat das scheinbar funktioniert. Auch wenn Orbán momentan unantastbar wirkt, die Menschen haben auf so etwas wie unsere Bewegung gewartet. Wir arbeiten noch immer basisdemokratisch, erklären alles, was wir machen, sind transparent, sowohl finanziell als auch inhaltlich. Wir bekommen unser Geld über Crowdfunding und durch Mitgliedsbeiträge, wobei die nur drei bis vier Euro pro Mitglied pro Monat betragen. Für die »NOlimpia«-Kampagne haben wir bereits  rund 16 Millionen Forint (~ 51.000 Euro) via Crowdfunding sammeln können. 

 

x Falls der Einzug ins Parlament klappen sollte, würde Momentum mit Fidesz zusammenarbeiten?

Nein! Bei manchen Abstimmungen würden wir vielleicht gleich abstimmen, aber nicht weil wir im politischen Sinn zusammenarbeiten. Zur Zeit kann ich mir überhaupt keine umfassende Koalition oder Kooperation mit einer Partei vorstellen. Es gibt jedoch auch Parteien in Ungarn, die uns schon jetzt öffentlich unterstützen, die sagen, dass man für die »NOlimpia«-Kampagne unterschreiben soll. 

 

x Wird »NOlimpia« ein Erfolg?

Es läuft sehr gut. Wir brauchen innerhalb eines Monats circa 138.000 Unterschriften von Budapestern, also Menschen, die wirklich in Budapest gemeldet sind. Das sind in etwa zehn Prozent der Wahlberechtigten. Der Veranstalter der Olympischen Spiele ist die Stadt Budapest, nicht das Land, daher hat das Gericht entschieden, dass es keine landesweite Unterschriftenaktion sein darf. Das ist Blödsinn, denn bezahlen würde nicht nur Budapest für die Spiele.

Wir stehen jedenfalls momentan bei 60.000 Unterschriften* nach einer Woche und haben noch drei Wochen Zeit. Zur Erklärung: Wir können nicht aufhören wenn wir die 138.000 zusammen haben, weil manche Menschen falsche Daten angeben, falsch unterschreiben oder eben nicht wirklich in Budapest wohnen. Das kann manchmal wirklich ein persönlicher, unbeabsichtigter Fehler sein, aber eigentlich wissen wir, dass die Regierung Fake-Personen schickt, die absichtlich falsch unterschreiben, damit wir glauben, wir haben schon deutlich mehr Unterschriften. 

 

*[Anmerkung der Redaktion: das Interview fand am 27.1.2017 statt. Am Schluss wurden 266.151 Unterschriften gesammelt.]

 

x Gibt es dafür Belege?

Die Regierung setzt natürlich keine offiziellen Anzeigen in eine Zeitung. Das erledigen andere, Internettrolle und ganz treue Orbán-Anhänger. In Online-Medien wurde in den Kommentarbereichen unzählige Male erklärt, was »wahre« Ungarn tun sollen, um uns Verrätern die Kampagne zu zerstören. In einem Regierungssender gab es auch einmal eine Diskussionsrunde, bei der Orbán-Leute sagten, dass Momentum vom Ausland gesteuert wird und jeder, der unterschreibt, sich untreu zu Ungarn verhält.  

 

x Spürt ihr Druck, dass ihr das Ziel erreichen müsst?

Es ist sehr schwer, also nicht der Druck, sondern der Weg. Wir sind seit ein paar Wochen keine »Underground-Bewegung« mehr. Seitdem wir öffentlich auftreten, haben wir Unterstützung von so vielen Menschen erhalten, Bürgern, Künstlern, Schauspielern, Politikern. Jeden Tag kommen zehn, zwanzig neue Herausforderungen auf uns zu. Wir müssen Interviews geben und niemand von uns hat das gelernt. Hunderte Menschen stehen täglich auf der Straße, in unserem Namen. Und natürlich, alles geht schief, was schief gehen kann. Die Pappständer werden kaputt, Leute werden krank, die Website ist down. Und das passiert alles so schnell, wir haben kaum noch Zeit miteinander zu reden, zu diskutieren. Es ist schon verrückt.

 

x In einem Interview sagten Momentum-Teammitglieder, dass sie genug von der politischen Elite haben. Warum?

Die EU war das Beste, was Ungarn passieren konnte, aber der Rest, der in der Zeit seit der Systemwende passierte, war schlecht. Das Land hat seine Chancen seit 1989 nicht genutzt. Unsere Träume wurden nicht erfüllt, deshalb reicht es uns. Wir wollen etwas anderes.

Wenn sich die Leute auflehnen und demonstrieren, dann werden sie von der Regierung wie Tiere behandelt. George Soros unterstützt zivile Bewegungen, er selber ist mittlerweile «public enemy number one«. Die Regierung wirft ihnen Geldverschwendung und Korruption vor. Das muss man sich einmal vorstellen! Die Regierung, die Milliarden unterschlägt und unter ihren Leuten verteilt, wirft zivilen Bewegungen vor, dass sie mit ein paar Tausend Euros schlecht wirtschaften. 

 

x Was ist Momentum, links, liberal, konservativ?

In Ungarn gibt es einen großen Unterschied zwischen rechts und links. Darüber zerreißen ganze Familien und Freundschaften. Wir können nicht miteinander reden und uns aber gleichzeitig auch nicht ignorieren. Das hat historische Gründe. Die Rechte wurde während des Kommunismus unterdrückt, die Linke während des Zweiten Weltkriegs. Nach der Systemwende gab es keine Aufarbeitung wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder in Österreich. Wir wollen das jetzt bei uns aufarbeiten. Und daher ist das Wichtigste, dass wir miteinander reden, rechts und links.

 

x Wie ist das Verhältnis bei Momentum?

Das weiß ich nicht, bei uns muss sich auch niemand deklarieren, wenn er Mitglied wird. Unsere Leitmotive, die für jeden gelten müssen, sind Solidarität, freier Wettbewerb und der gesunde Weg von Patriotismus, nicht Nationalismus. Diese drei Grundwerte gehen mit beiden Positionen, links und rechts, zusammen. Wir sind der Überzeugung, dass das sogar Hand in Hand gehen kann. Ohne dieses Verständnisses könnte die Organisation nicht weiter existieren.

 

x Was ist eure Vision für Ungarn?

Wir wollen eine westliche Demokratie. Ungarn soll eine Zukunft haben, transparenter werden, wieder näher zur EU rücken, weg von Russland. Wenn du eine Karriere oder Familie oder beides planen möchtest, dann soll das in Ungarn möglich sein, egal ob Mann oder Frau. Wir wollen Dinge, die in vielen anderen Ländern normal und garantiert sind. Wir wissen, dass wir uns durch und mit Orbán immer weiter von solchen Vorstellungen entfernen. Das muss gestoppt werden, bevor es zu spät ist. 

 

x Warum wollen die Menschen Typen wie Trump, Hofer, Le Pen, Erdogan, Putin, Orbán?

Wenn ich das nur wüsste, würde und müsste ich wahrscheinlich nicht hier sitzen. Ich glaube, die Welt wird für viele Menschen immer komplizierter und sie verstehen sie nicht. Die Politik soll für sie die Entscheidungen treffen, dass sie selbst nicht so sehr nachdenken müssen. Momentan ist der Populismus für sie die Antwort, aber das kann noch extremer werden. Populismus ist die erste Antwort, aber nicht die letzte, im Negativen, wie im Positiven. 

 

x Was, wenn der Einzug ins Parlament nicht klappen sollte?

Wir werden nicht aufhören und es weiter probieren. Momentum steht schon jetzt für mehr als nur für sich. Der Geist wird weiterleben. Früher war es immer so: zuerst war ein single case, dann eine Bewegung. Bei uns war es anders: zuerst war die Organisation, Sommercamps, Diskussionsrunden und so weiter und dann gab es den Grund, öffentlich zu werden, nämlich die Olympiabewerbung. Da haben wir gesagt, das war unser Momentum. Jetzt müssen wir live gehen. 

Wir alle lernen viel von der Bewegung, wir entwickeln sie und uns weiter. Neben der »NOlimpia«-Kampagne organisieren wir rund um den Besuch Putins am 2. Februar Diskussionsrunden über die Beziehung zwischen Ungarn und Russland. Die Menschen sind an uns interessiert. Egal, wie die Wahl ausgeht, Aktivismus, das habe ich in Deutschland gelernt, ist »everyday life«. Das ist in Ungarn neu, aber das wollen wir aufbauen, für unsere Mitmenschen und für unser Land. Ich glaube, das kann unser Projekt nachhaltig machen.