„Orbán ist kein guter und kein anständiger Mensch“

Ein Gespräch mit der Philosophin, ehemaligen Exilantin und Holocaust-Überlebenden Ágnes Heller über den Zustand der ungarischen Demokratie, die Person Viktor Orbán und die zukünftige Gegenwart. 

 

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Wir rauchen noch eine, bevor wir in dieses »Kaffeehaus« reingehen. »Es gibt ein Kaffeehaus Smúz genannt«, hat sie geschrieben, »beim Parlament, an der Ecke«, hat sie geschrieben, »Erste Station mit 2 nach Jàszai Mari tér. Man kann laufen. Um 5.« Aber sind wir hier richtig? Ist das nicht ein Blumenladen, fragen wir uns, oder doch eine, ins eiskalte Budapest gesetzte, Shabby-Chic-Strandbar? In der Auslage steht ein Fahrrad mit Blumenkorb. Irgendwie passt das nicht in das klassizistische Budapest-Ambiente, vis á vis des in den ungarischen Nationalfarben beleuchteten neogotischen »Westminster«-Parlaments. 

Ein Interview mit der 88-jährigen Philosophin Agnes Heller, über die Demokratie, in Budapest, im Jahr 2017. Der Ort ist so völlig rausgefallen aus dem ihn ringsumgebenden Flair. Ist das ihr Ernst? Und in dem Moment kommt Agnes Heller auf uns zu. Dicker gefütterter Ledermantel, gestrickter Schal und gestrickte Wollhaube. Agnes Heller ist nicht groß, aber auch wenn der Platz mit Leuten gefüllt gewesen wäre, um sie herum wäre immer Platz - weil sie auftritt. Schon während wir »Hallo« sagen wollen, kommt sie uns zuvor, »Rauchen Sie ruhig noch aus.« Ja, der Ort passt. Wir folgen ihr hinein. »Ich muss noch jemanden begrüßen.« Den Besitzer, mit seinem grauen Weimaraner. »Bestellen Sie einstweilen. Ich trinke einen Tee, bei dem Wetter, einen Schwarztee.« Während wir noch unsere Mäntel ablegen, hat sie sich schon zweimal umgesetzt und ihren Tee eingeschenkt. 

»Über was wollen Sie mit mir sprechen.« Das war keine Frage ihrerseits, sie spricht denkend schon weiter. »Über die Pause der Demokratie. Aber es gibt keine ewige Pause. Da muss immer etwas danach kommen, nach der Pause. Pause ist optimistisch. Pause ist immer zwischen zwei Akten und ein Warten auf den nächsten Akt. Die Fortführung der Geschichte. Sie wollen über Pause der Demokratie sprechen?« - »Ja.« - »Es muss Pause IN der Demokratie heißen. Aber was ist Pause überhaupt? Es passiert doch immer etwas.« … (Ja, wir können ihr da nicht widersprechen. Es passiert gerade etwas Wunderbares.

Noch bevor wir die erste Frage gestellt haben, legt sie los, ungebremst, unaufgefordert, unglaublich mitreißend.) … »In der Demokratie, wie in der Geschichte, gibt es keine Pause. Wenn man davon redet, dass es eine Pause in der Demokratie gibt, dann geht man doch davon aus, dass ein nächster Akt der Demokratie kommt. Die Voraussetzung hierfür aber ist Hoffnung. Aber wie schon Goethe sagte, Furcht und Hoffnung sind schlechte Leidenschaften, denn auf sie kann man keine Zukunft bauen. … (Während sie das sagt, schenkt sie sich ihren Tee ein. »Wenn man ihn nicht lange ziehen lässt, wird der Tee nicht so stark, das mag ich nämlich nicht«) … 

In der Geschichte gibt es keine Pause, auch nicht im persönlichen Leben, auch nicht, wenn wir schlafen. Die Frage ist, gibt es überhaupt eine Pause im Leben? Im Sonnenschein liegend vielleicht? Dann liegen wir doch. Beim Ausruhen? Dann ruhen wir. Das sind keine Pausen, auch das ist etwas Aktives. Nein, es gibt keine Pause von, nur Pausen in etwas. Pause im Tee trinken und eine Zeitung lesen oder Liebe machen. Es gibt keine Pause, es gibt nur eine Abfolge von Tätigkeiten.« Wäre das Treffen jetzt vorbei, es hätte sich schon gelohnt! Wir sitzen da, still, Agnes Heller ist Philosophin und lehrt Denken. Wir sitzen da, wir müssen jetzt eine Frage stellen. Irgendeine! Die Vorbereitung hat sich, im Nachhinein schon ausgezahlt, aber die Struktur ist schon jetzt weg. Schnell, eine Frage.


x Was sagen Sie zu den Entwicklungen der ungarischen Demokratie seit Orbán? 

Toll, das ist unsere erste Frage? An diese Frau?

Orbán hat selbst die Form der Demokratie bestimmt. Er hat von der illiberalen Demokratie gesprochen und das ist sie auch. Denn illiberale Demokratie bedeutet, dass die Regierung zwar von der Mehrheit gewählt wurde, aber keine Freiheit mehr existiert und die Medien ihrer Kontrollfunktion beraubt sind. Bereits Mussolini hat für seine Regierung diesen Begriff benutzt und gesagt, dass der Liberalismus im 20. Jahrhundert sterben wird. Und eigentlich herrscht in Ungarn sogar eine illiberale Autokratie, weil ein Mann, Orbán, alles entscheidet. 


Auf diese Frage hat sie mit dem Dilemma des 20. und 21 Jahrhunderts geantwortet. Wo das Heute angefangen hat und wohin die Zukunft führen kann. Wir lassen das jetzt einfach einmal weiterlaufen und schauen, was passiert. 


x Ist die Demokratie in Ungarn gerade auf Pause oder hat sie schon verloren?

In der Geschichte kann man nichts vollkommen verlieren. Auch einen Krieg kann man nicht vollkommen verlieren. Man kann eine Niederlage auch in einen Gewinn umwandeln. In Ungarn gab es nie eine liberale Demokratie, nicht für fünf Jahre oder fünf Tage. Ob je eine liberale Demokratie existieren wird, hängt von der ungarischen Bevölkerung, von uns, ab.


x Orbán, Le Pen, Hofer, Trump. Wieso hat dieser Politikertyp bei den Menschen gerade so ein Hoch?

Ich habe den Begriff Populismus nicht gern, weil Regierungen immer unterschiedliche Institutionen sind. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass die Rechte in der Welt und in Europa gerade überwiegt. Die rechte Radikale ist im Aufschwung, sie besetzen mehr und mehr Regierungsplätze. 

Le Pen aber wird das nicht schaffen, weil das Land eine andere Geschichte, Tradition hat. In Ungarn gab es nach der Systemwende zwar alle notwendigen demokratischen Einrichtungen, aber die Bevölkerung hatte keinen Sinn für Demokratie entwickelt. Es war eine Diskrepanz zwischen den Führern, die an die Demokratie glaubten und der Bevölkerung, die keine Ahnung hatte. Sie sind keine Staatsbürger, sondern Untertanen, und diese Situation haben sie lieb gewonnen. Im Gegensatz dazu haben die Franzosen nie ihren eigenen Diktator gewählt, seit Napoleon. Die Griechen, ja. Die Spanier, ja. Die Franzosen, nein. Daher hat Le Pen nicht die gleichen Chancen wie Orbán


x Was ist, wenn die Erfolg haben? Wenn Trump es schafft, dass es den Menschen ökonomisch tatsächlich besser geht.

Als Vorbemerkung muss gesagt sein, dass Amerika eine andere Geschichte hat als Europa. Der Liberalismus ist in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben und kein Präsident kann dagegen etwas tun. Weiters war Amerika immer schon eine Massengesellschaft. Populismus ist dort, wie in allen Massengesellschaften, ganz natürlich. Auch Obama verhält sich populistisch, wenn er öffentlich auftritt. 

Zur ökonomischen Agenda: Trump will die Arbeit in die USA zurückbringen. Er will ein Ende mit der politischen Korrektheit machen. Deshalb sind die weißen Männer für ihn, sie fühlen sich und ihre Familien in der letzten Zeit benachteiligt. Sie wissen nicht, wo sie stehen. Ihre Frauen sind selbstständig, haben eigene Ideen. Jetzt auch noch eine Frau als Präsidentin? Das wäre zu viel. Hinzu kommt das Wegbrechen der Mittelschicht, die Versprechung, dass es der nächsten Generation besser geht als der jetzigen, gibt es nicht mehr und das ist auch in Europa ein Problem. Deshalb wählt die Mittelklasse Typen wie Trump, in den USA und in Europa.


Wir müssen jetzt noch einmal nachfragen, weil, was wenn wirklich?


x Glauben Sie, dass Trump Erfolg haben wird?

Ich habe keine Ahnung. Meine amerikanischen Freunde sagen, es hängt davon ab, ob er oder seine Mitarbeiter entscheiden. Wenn er entscheidet, dann hat er keinen Erfolg. Wenn seine Mitarbeiter entscheiden, dann schon. Er wird die Musik aber nicht dirigieren. 

Viel wichtiger ist, sagen meine amerikanischen Freunde, dass sich die demokratische Partei nach dem Zusammenbruch jetzt wieder neu formiert. Sie haben in den acht Jahren der Präsidentschaft Obama schlecht an der Basis gearbeitet und das zeigt sich jetzt, sie sind im Volk nicht verwurzelt.

Trump ist nur eine Erscheinung. Meine Freunde glauben, dass die demokratische Partei ihre Position wieder zurückbekommen kann, aber sie müssen sich anstrengen. 


Wir nehmen Trump als Erscheinung, das beruhigt. Wir wollen jetzt etwas über die Person wissen. Der erste Bruch. Auf welcher Seite sieht sich Agnes Heller?


x Reden oder Denken? 

Das ist keine Wahl für Philosophen. Reden heißt gleichzeitig auch denken und reden ist denken, man schwatzt nicht. 


x Aufstehen oder sitzenbleiben? 

Das hängt davon ab, was man tut. 


So einfach, so simpel, die Antwort. 


x Ich oder wir? 

Das ist keine Alternative. In der Philosophie hat man lange vom Wir gesprochen, heute nicht mehr, das änderte sich im 16. Jahrhundert, als wir Philosophen begannen, auch mit unserem eigenen Namen zu sprechen. Davor sprachen wir im Namen der reinen Wahrheit. Aber allgemein gesagt ist »Wir« eine Frage der Identität. 


x Mit oder gegen den Strom?  

Ich schwimme immer gegen den Strom. Das gehört zu meiner Persönlichkeit.


x Unbequem oder Gemütlichkeit? 

Das ist kein Gegenteil. Was ist unbequem? Es ist unbequem für einen anständigen Menschen zu lügen, aber manchmal lügen diese trotzdem. Deshalb ist das kein Gegensatz. 


Agnes Heller hat als Philosophin geantwortet. Das ist gut, das lag wohl auch an den Fragen. Wir wollen aber näher zu ihr, ihr selbst. Wir konfrontieren sie jetzt mit einer ihrer eigenen Aussagen und wollen so etwas näher an sie, im Kleinen, und an unsere Zeit, im Großen, kommen. Was hat sie zu unseren Sorgen zu sagen?


x Sie sagten einmal, Europa redet nur über europäische Werte und nicht über seine Unwerte. Was sind europäische Unwerte?

Das ganze 20. Jahrhundert! Im 20. Jahrhundert haben wir Europäer hundert Millionen Europäer getötet, unter Eindruck und Rechtfertigung des Verhältnisses von Tugend und Terror wie es Robespierre formulierte. Die ersten totalitären Staaten waren europäisch. Das sind Unwerte! Wenn man nur über die Aufklärung, über Freiheit spricht, dann guckt man nicht aufrichtig in die Vergangenheit. Auch der Kolonialismus ist ein Unwert.


x Wir empfinden die momentane, unsere Zeit als sehr fremdenfeindlich und nationalistisch, egal in welchem Land. Warum ist das so?

Die Frage müssen sie beantworten. Sie sprechen für Ihre Generation. Ich habe einmal mit meinen Enkeln gesprochen, wie sie sich fühlen. Sie fühlen sich, wie viele im heutigen Ungarn, unwohl, sie wollen weg. Aber auf die Jugend auf der ganzen Welt? Meine ehemaligen Studenten in Amerika liefen 2004 für Kerry. Sie haben damals nicht geschlafen, nicht gegessen. Ich weiß nicht, was sie heute machen, aber als sie 22, 23 Jahre alt waren, da hatten sie das Gefühl, dass sie sich die Welt selbst errichten können und ja, das ist eine Aufgabe, sich in der Welt auch einzurichten. 

Die ungarische Jugend ist unzufrieden, das hat nationale Gründe, aber es gibt auch junge Gruppen, Momentum beispielsweise, die hier etwas ändern möchten. Ich glaube, sie sind im Stande eine Partei zu gründen und das wäre wichtig. Die Jungen tragen eine Hoffnung in sich, aber das ist Sache der Zukunft. 


x Erleben wir gerade ein 1968 von der anderen Seite? Schlägt das Pendel gerade in die andere Richtung?

Das Pendel, ja, es geht in gewisser Weise wieder zurück. Aber ein Pendel kann nie ganz zurück schlagen. Wenn ein Gedanke einmal in der Welt ist, kann man ihn nie mehr komplett ausschließen. 1968 kann man nicht verlieren. In keinem Land muss man sich beispielsweise mehr schön anziehen, um ins Theater zu gehen. Auch die Tischmanieren haben sich geändert und auch, dass junge Mädchen in Männerdomänen eingedrungen sind. Heute können Männer und Frauen unverheiratet zusammenleben, sogar Kinder haben. Die Anerkennung der Homosexualität! 68 hat in vielen Bereichen gewonnen. Trump ist jetzt die Gegenbewegung, aber alles werden sie nicht zurückerobern können. 


x Die »neue, bessere« Welt wird immer durch die unsere, jetzige vorbereitet? Sind wir Liberalen Schuld am Erfolg der Populisten?

Alle Führer in allen Bewegungen versprechen uns eine bessere Welt. Aber was ist das, eine bessere Welt?  Was für Trump Verbesserung heißt, muss nicht zwingend für alle gut sein. Bei Trump ist es sogar so, dass alles, was er besser nennt, für uns schlechter ist. Deshalb braucht es Kompromisse zwischen den verschiedenen Konzeptionen von Verbesserung, was davon abhängt, was Gerechtigkeit ist, und da sind wir wieder bei Platon. Die wesentliche Frage der Philosophie ist die Frage nach dem gerechten Staat. Aber der existiert nicht! Deshalb hängt es von uns Menschen ab, welcher Staat zumindest ein verbesserter Staat ist. Denn besser bedeutet, wenn immer weniger Menschen fühlen, dass etwas ungerecht ist. 


Ihr Welterklären ist schön, beruhigend und Ruhe gebend. Kurze Pause. Agnes Heller, wer sind Sie eigentlich?


x Morgen- oder Abendmensch?

Ich bin ein Tagmensch. In meiner Kindheit habe ich Abend- und Morgenmenschen immer beneidet. Das waren für mich die wirklichen Intellektuellen, die wahren. Als Kind wollte ich immer eine Intellektuelle sein, ich wollte immer lange aufbleiben, bin aber immer eingeschlafen, früh aufstehen konnte ich auch nie. In der Nacht schlafe ich. Ich bin also ein Tagmensch. 


x Frühstück oder nur Kaffee und Zigarette?

Ich habe einmal geraucht, bis ich fünfzig war und eine schwere Lungenentzündung bekam. Ich liebe frühstücken, aber nicht viel. Ich liebe Mittagessen, das muss gut sein. Ich liebe Abendessen, aber sehr wenig.  


x Fleisch oder Salat?

Fleisch! (sie schreit fast) Absolut! (Und da geht die Stimme nach oben, jetzt weiß sie, worum es in diesen Interviewteilen geht und es gefällt ihr. Es ist jetzt eine andere Agnes Heller, die spricht. Nicht nur mehr die momentan hier sitzende, sondern die der letzen Jahrzehnte inklusive, die allumfassende, persönliche Agnes Heller.) Ich hasse Salat!


x Digital oder analog?

Was? Achso. Ja, ich schreibe auf diesen da. (Deutet auf den Laptop) Früher schrieb ich alles mit der Hand, in Australien hatten wir noch Sekretäre, die haben dann alles abgetippt. In den USA gab es das schon nicht mehr.


x Bademantel oder Abendkleid?

Ich liebe es, mich nur einmal am Tag anzukleiden. (verschmitztes Lächeln) Manchmal muss ich abends ein bisschen etwas anderes anziehen, aber das sind dann nur minimale Veränderungen. 


Und irgendwie wissen wir, was sie meint. Maximal ein Schal oder eine Brosche, die sie wahrscheinlich tagsüber schon in ihrer Handtasche mit hat. Kleidung ist Konvention, aber umständlich, darum geht es nicht, um die Verpackung. Aber an der sind wir jetzt interessiert, an ihren ehemaligen Aussagenversatzstücken. Was sagen Sie, Agnes Heller, zu: »Sie haben einmal gesagt, dass…«?


x Sie haben einmal gesagt, dass Ungarn sich schwer damit tut, seine Geschichte aufzuarbeiten und Demokratie nicht gelernt hat und die Ungarn deshalb gewohnt sind, Befehlen zu gehorchen. Muss sich das ändern?

Ein Untertan ist daran gewöhnt, nicht mit dem eigenen Kopf zu denken, sondern zu gehorchen. Sehr viele Menschen fürchten sich vor der Freiheit, weil sie dann selbst entscheiden müssen. Eine Entscheidung verlangt Nachdenken und Nachdenken braucht Zeit und deshalb ist es für manche bequemer, dass andere für sie denken. Das sollte aber geändert werden, denn es ist besser, wenn die Menschen mit ihrem eigenen Kopf denken. Sie können dann am Leben wirklich teilnehmen, Entscheidungen treffen und ihr eigenes Schicksal wählen. Die einzige Möglichkeit dafür ist die liberale Demokratie. Punkt.


x Es gibt keine gute Gesellschaft, haben sie ein anderes Mal gesagt. Wie nahe ist Ungarn an einer guten Gesellschaft dran?

Ich habe nicht von einer guten Gesellschaft gesprochen, weil nur Gott und Menschen können gut sein. Gesellschaften können nur gerecht sein, aber gerechte Gesellschaften sind nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert. Gerechtigkeit ist nicht wie Salz oder Zucker, ihre Anwesenheit kann in einer Gesellschaft nicht gemessen werden. Alle Menschen müssten sagen: »Ja, es ist eine gerechte Welt.«, aber wenn das alle sagen würden, dann wäre das eine schreckliche Welt, denn das ist brave new world.

Ungarn ist davon jedenfalls sehr weit weg entfernt. Die Menschen haben nicht einmal die Möglichkeit zu sagen, dass Ungarn oder die Regierung ungerecht ist. Wer das sagt, wird als Verräter beschimpft, als schlechter Ungar, Unungar, Spion und Feind. Und ein Feind muss besiegt werden. Was genau mit den »Feinden« passieren wird, weiß ich nicht, aber irgendetwas wird mit den »Feinden« passieren. 


x Ein weiteres Mal haben Sie gesagt, Orbán ist nicht antisemitisch und nicht rassistisch. Ist Orbán ein guter Mensch?

Orbán ist ein Machtmensch. Er glaubt nur an eine Sache und das ist Macht und die Mittel, um sie zu vergrößern. Er hat überhaupt keine Überzeugungen. Er ist kein guter Mensch. Das ist aber nicht das Problem. Sehr viele Politiker sind keine guten Menschen. Orbán aber ist noch dazu kein anständiger Mensch. Er lügt Tag und Nacht. Ein Politiker muss nicht notwendigerweise ein guter Mensch sein, aber ein anständiger!


x Haben die Ungarn aufgehört zu demonstrieren?

Die Regierung bietet immer wieder neue Eskalationen, wogegen demonstriert werden kann. Wenn man für ein Einzelinteresse mit ein, zwei, drei Demonstrationen nichts erreicht, dann wird man müde. Warum soll ich ein viertes Mal gehen? Ich habe dafür auch Verständnis.  Wir hatten in den letzten Jahren schon drei große Bewegungen, sie sind alle wieder verschwunden. Die Bewegung muss sich als Partei formieren, damit sie eine Linie, einen Strang hat. Es fehlt die Kontinuität.  


x Sie haben vorhin schon die neue politische Bewegung Momentum angesprochen. Wir möchten kurz auf sie zurückkommen. Was halten sie von ihr?


Ja. Die sollen sich als Partei gründen. Das würde nicht alle Probleme lösen, aber schon viele. 


Ein anständiger Mensch sein, das gefällt uns natürlich, und das weiß sie auch. Aber sie sagt das nicht, weil es uns gefällt, sondern weil sie es muss. Sie muss es sagen, weil sie genau das lebt, Anständigkeit. Und deshalb werden wir jetzt unanständig und stellen unanständig naive Fragen für eine Philosophin. Frechheit?


x Wo sind Sie zuhause?

In Ungarn. (Wir glauben, sie hat uns durchschaut. Unphilosophischer geht nicht oder ist das jetzt schon wahre Philosophie? Wir setzen einen drauf.)


x Ist es manchmal nicht besser, den Mund zu halten?

Den Mund? Nein! Ich habe nämlich keine Alternative, das ist mein Charakter. Manche Menschen sagen, ich sei tapfer, aber ich bin nicht tapfer. Ich kann nicht anders. (Da war sie jetzt wieder mehr Philosophin und wir haben etwas falsch gemacht. Wir können aber noch einen Schaufel drauf legen.)


x Wieviel Philosophie leben Sie im Alltag?

Mein Alltag ist Philosophie. Schreiben ist es ebenfalls. (Pfuh. Sie hebelt uns da gerade gut aus. Aber mit so einem Lächeln, dass wir uns jetzt trauen, eine wirklich saublöde Frage an eine Philosophin zu stellen.)


x Denken Sie gerade über uns nach?

Ich denke immer nach, wenn man mir Fragen stellt. Man kann aber nicht immer in Klischees antworten. (Sie hat uns sowas von durchschaut.  Aber sie sagt das mit so einer Ruhe und auch Zufriedenheit, weil sie einerseits weiß, dass wir es nicht böse meinen, und weil sie weiters weiß, dass sie auch auf so eine Frage genau so antworten kann. Weil wir zwei bringen sie sicher nicht aus ihrer Denkruhe und deshalb lächelt sie uns bei den zwei nächsten beiden Sätzen so sehr ins Herz.) Das heißt aber nicht, dass ich Ihnen nicht sage, was ich schon gesagt habe. Aber man kann sich nicht in der gleichen Weise wiederholen, auch wenn man sich wiederholt. 


(Wir können jetzt nicht aufhören. Sie weiß das. Wir wissen das. Also los.)


x Haben Sie manchmal genug vom Nachdenken?

Nein, das ist Leben. Wenn man vom Nachdenken genug hat, hat man genug von seinem Leben. 


x Tut nachdenken weh?

Nur wenn man Gewissensbisse hat, dann kann es wehtun. Wenn nicht, dann nicht. In der Philosophie kann es das aber gar nicht geben. Es gibt höchstens blöde Ideen, aber die tun nicht weh. 


(Das waren zwei so wunderschöne Antworten. Schöner kann es gar nicht mehr werden. Wir wollen aber jetzt noch etwas zur Pause wissen.


x Wie definieren sie das Wort Pause?

Zwischen zwei Akten. Es gibt nur eine Pause in etwas, nie von etwas. Pause heißt nicht Nichts. 


(17 Worte, 3 Sätze, 1 Bewunderung. Aber bevor wir uns jetzt Agnes Heller vollkommen hingeben, klammern wir uns an unsere Vorbereitungen. Vor dem letzten persönlichen Teil haben wir noch große Fragen vorbereitet. Wir haben noch so viel vor.)


x Hat die Säkularisierung in Europa dazu geführt, dass Religion, hier besonders das Christentum, heute auf Pause gestellt ist?

Ich glaube nicht, dass die Religion in einer Pause ist. Säkularisierung heißt nicht, dass man keinen Wert in der Religion findet. Es heißt nur, dass sehr viele Sachen, die im Leben wichtig sind, nicht mit der Religion zusammenhängen. Die Politik beispielsweise oder die Wissenschaft. Ein Wissenschafter löst ein Problem ohne Religion. Das heißt aber nicht, dass Religion nicht existiert. Einstein sagte, dass die Wissenschaft nichts mit Gott zu tun hat, aber er sagte auch, dass er die Buchstaben Gottes im Weltall lese. (Kurze Nachdenkpause, in der sie ihren Oberkörper kurz zurücknimmt und mit einer nach oben gehenden Bewegung wieder Anlauf nehmend in unsere Richtung schiebt.) Habermas sagte einmal, dass wir eine postsäkulare Gesellschaft sind. Damit meint er aber, dass die Bürger durchaus Interesse an Religion haben, aber nicht an der Kirche, sondern sie denken darüber nach, was Religion für sie bedeutet. 


x Stichwort Fake-News. Hat die Wahrheit gerade Pause?

Mit der Wahrheit macht man nicht Pause. Wenn ein Mann seine Frau betrügt, dann kann er die Wahrheit sagen oder er lügt, um es bequem zu haben. Aber auch für die Lüge muss man die Wahrheit wissen. Orbán aber macht nicht einmal einen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit. Es ist ihm egal. Er kennt diese Distinktion nicht, auch nicht zwischen gut und böse oder gerecht und ungerecht. Für ihn gibt es nur eine Distinktion: eine richtige und eine falsche Entscheidung und richtig ist sie, wenn sie seine Macht vergrößert, falsch, wenn sie sie verkleinert. (Wieder die kurze Nachdenkpause, aber diesmal geht ihr Körper nicht in unsere Richtung, sonder hebt förmlich ab.) Ja, erfolgreich und nicht erfolgreich, das kann er auch noch und angenehm und unangenehm. Alles andere kann er nicht. Wenn man ihm eine Frage stellt, bei der er lügen kann, dann wählt er nicht die Lüge, sondern er wählt, was ihm angenehm ist.


x Die Jugend von heute wird immer als lethargisch beschrieben. Hat politisches Engagement bei jungen Menschen gerade Pause?

Das hängt vom jeweiligen Land ab. In England sind sie wenig engagiert, das sahen wir beim Brexit. Sie waren gegen den Brexit, aber auch zu faul, diesen kleinen Spaziergang zur Wahlurne zu machen. 

Ich weiß nicht, was in Ungarn passieren wird, oder in Italien oder in Deutschland oder in Holland. Es wird sich zeigen, was die Jugend macht.


x In der Türkei dürften wir manche Fragen von hier wahrscheinlich gar nicht stellen. Ist die Freiheit gerade dabei in die Pause zu gehen?

Es gibt keine Freiheit in der Türkei. Dort ist es sogar schlimmer als in Ungarn und in Russland. Erdogan und Putin haben sich antiliberale Oligarchien gebaut, aber für die Türkei ist der Totalitarismus nochmals näher als für Russland. 

Allgemein gesprochen: Es gibt verschiedene Freiheiten. Gesellschaften leben verschiedene Freiheiten, auch politische. Das hängt vom Land und vom freien Willen ab. Die Frau ist nicht deswegen frei, weil sie wählen gehen darf. Vielmehr gibt es Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten. 


Sie sagt das immer so schön, mit ihren zweigeteilten Antworten. Die engagierte, heißblütige Agnes und die reflektierte, besonnene Frau Heller. Wir gehen jetzt aber weiter in unserem Fragenkatalog, den wir um Begriffe ergänzt haben, die uns im Zuge unserer Recherchereise entgegen gerufen wurden. Jetzt: ein Wort, ein Schlagwort.


x Kopftuch.

(Stille und kurzes Nachdenken, der Blick ruhig und geradeaus) …  Frauen.


x Feminismus. 

(In der Ruhe stellt sich ein Lächeln ein, hoffnungsvoll und zufrieden gleichzeitig.) Eine Bewegung des 20. und 21. Jahrhunderts. 


x Weltuntergang.

(Lacht laut auf, ein fast schon erheitertes Lachen.) … Eine westliche Idee.


x Galantarie.

(Schaut stutzig.) Was ist das? Achja. Traditionell, doch nett.


x Samstag Nachmittag. 

(Nochmals stutzig. So à la, was ist daran anders als am Mittwoch Nachmittag.) Für viele Leute Freizeit, für andere der beste Teil des Tages. 


Uns fällt immer wieder nur das Wort »schön« ein, deshalb, schön war das gerade. Fünf Worte an Frau Heller sind eine Reise mit Agnes. 

Zum Schluss, noch drei Fragen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Die aber trotzdem wichtig sind, denn sie sagen, was wir aus unserer Hoffnung machen können, wohin wir sie kanalisieren müssen.


x Was ist heute links? Sind Sie links?

Das hängt davon ab, was zu dem Zeitpunkt und in dem Land links ist, in dem ich mich das frage. In der Zeit von Kádár war ich rechts, weil ich eine Opposition zur Regierung war. Im heutigen Ungarn bin ich wohl linksliberal, wenn ich diese Regierung als schlecht bezeichne. In Venezuela würde ich zur Rechten gehören, weil dort ein Linker Diktator ist, wie auch in Nordkorea. Ich bin immer dort, wo die Freiheit ist. Das ist meine zivile Religion.


x Stichwort Renationalisierung oder »Make America Great Again«. Fürchten wir uns so sehr vor der Zukunft, dass wir die Vergangenheit wiederherstellen wollen?

Ich glaube nicht, dass wir die Vergangenheit wiederherstellen wollen, können oder sollten. Punkt.


x Wie soll oder kann eine europäische Identität aussehen?

Ich weiß nicht, wie sie aussehen kann. Ich weiß nur, wie es wäre, wenn wir darüber sprechen könnten: Dann nämlich, wenn ein Kind in einem x-beliebigen Dorf diese Frage gestellt bekommt und es diese Frage versteht, dann gibt es Europa!