„Und dann bist du ein Drecksliberaler“

 

Interview mit Lidia Nadori.

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x Was war der Auslöser für Ihr Engagement?

Ich wurde 2010 politisch aktiv, als die Regierung Orbán damit begann, das Bildungssystem umzubauen. Allerdings taten sie das ohne einen zivilgesellschaftlichen Diskurs. Sie haben sogenannte Scheinzivilgesellschaften installiert, die mit dem neuen Gesetz angeblich einverstanden waren. Ich habe damals per Zufall Informationen bekommen, wie dieses Gesetz aussehen soll.


x Wie sah ihr Engagement dann aus?

Ich habe gemeinsam mit einer Kollegin aus Eigeninitiative versucht, ein Netzwerk für Eltern aufzubauen. In Ungarn gibt es so etwas nicht. Wir Eltern, ich bin selbst Mutter zweier Söhne, haben keine Mitsprache bei schulischen Angelegenheiten. Das Bildungssystem war davor schon sehr konservativ und dieses neue Gesetz sollte die Bürokratie, die Überprüfung und die staatliche Kontrolle und Lenkung noch weiter ausbauen.


x In Ungarn gibt es keine Elternvereinigung?

Es gibt eine kleine zivile Elterngemeinschaft, aber die beschäftigt sich nicht mit essentiellen Fragen, sondern mit belanglosen Themen wie, dürfen Lehrer ein Klassengeld einsammeln. Das sind keine relevanten Themen. Noch dazu ist diese Gemeinschaft kein richtiges Netzwerk. Sie halten keine Kommunikation mit den Eltern. Als das Gesetz kommen sollte, haben sie ihre Stimme nicht erhoben, es kam keine Forderung ihrerseits, dass die Elternseite bei dem Gesetzesentwurf miteinbezogen werden sollte. 


x Wie war es, von Null auf ein solches Netzwerk aufzubauen?

In Ungarn ist so etwas schwierig, weil die Bevölkerung mittlerweile eine so ablehnende Haltung gegenüber der Politik und allem, was mit Politik zu tun hat, einnimmt. Weiters sind Eltern keine eigentliche Gesellschaftsschicht, keine genau definierte Kategorie, weil jede und jeder kann ein Kind haben. Die Gruppe ist also völlig heterogen. Wir haben dann begonnen, breiter zu denken und uns einem anderen Netzwerk, dem sog. Netzwerk für Bildungsfreiheit, angeschlossen, in dem nicht nur die Eltern, sondern auch Schüler und Studenten, Lehrer, Psychologen und Kinderpsychologen gearbeitet haben. Bald aber, wir haben alles basisdemokratisch entschieden, wurde es mühsam, wir konnten uns immer seltener einig werden. Dabei spielten aber auch technische Fragen, nicht nur rein inhaltliche Unterschiede, eine Rolle. Diese Probleme hatten und haben aber viele Netzwerke in Ungarn. 


x Sie meinen also, dass das auch anderen Initiativen so ergeht?

Ja, der Punkt kommt immer unausweichlich, an dem man als zivile Bewegung auf die Politik stößt und sich entscheiden muss: Wollen wir mit den Parteien zusammen arbeiten oder nicht. Viele sind Politikern gegenüber extrem misstrauisch und wollen sich nicht verkaufen. Die andere Seite der Bewegung sagt aber, es muss sein, wir müssen unsere Familie ernähren, wir haben nicht unendlich Zeit und außerdem brauchen wir die Infrastrukturen der Politik, damit etwas weiter geht. Diese beiden Fraktionen konkurrieren miteinander. Und daran scheitern viele zivile Bewegungen. 


x Haben Sie das eigentlich hauptberuflich oder ehrenamtlich gemacht?

Ich habe nie Geld dafür bekommen. Das würde nicht gehen. Das ist nämlich wieder ein heikles Thema. Bürgerbewegungen sind von Regierungsseite ständig Kritik ausgesetzt. Die sagen, dass wir gar keine Zivilen sind, sondern sogenannte Schein-Zivile, und gesteuert werden von irgendeiner „Macht“. Hinzu kommt, dass immer unterschwellig ein Hauch von Antisemitismus mitschwingt. Wer sich engagiert, wird von Soros*-Geldern finanziert. 

Das wird von der regierungsfreundlichen Presse gern so hingestellt, und wenn nicht Soros-finanziert sind, dann eben von Norwegen oder einem anderen Land. Sie prüfen es nicht einmal nach, woher eine eventuelle Finanzierung kommt.

[*George Soros unterstützt mit seinem Vermögen unter anderem politische Aktivisten. Er ist Ungar, lebt in den USA, dort wurde er mit Hedge-Fonds und Aktien reich. Seine Familie ist jüdischer Herkunft. Nach eigenen Aussagen war er aktiv an der Vertreibung des Kommunismus in Osteuropa beteiligt.Über die Soros-Foundation unterstützt er unter anderem Reporter ohne Grenzen. 

Viktor Orbán wirft Soros vor, maßgeblich für die Flüchtlingskrise in Europa verantwortlich zu sein. 

x Die Regierung also diskreditiert Bürgerbewegungen der eigenen Bevölkerung?

Ja, das tun sie durch die Medien. Und in den Köpfen nisten sich diese Urteile ganz schön ein. Natürlich wird das dann auch immer über die Regierungsmedien noch extra hochgespielt, so lange geschrieben, bis „etwas“ passiert. 


x Was meinen Sie mit „etwas“? Haben Sie echte Repression erfahren?

Nein, aber ich habe ja auch schon vor fünf Jahren aufgehört, aktiv zu sein. Die, die dabei geblieben sind, die werden jetzt nicht an die Wand gestellt, aber ich weiß von sehr genauen Finanzprüfungen. Es wird versucht, den Bewegungen und den Menschen ihre finanzielle Grundlage zu zerstören und das teils mit beängstigenden Mitteln. Bei einer linken, pro-Umwelt Stiftung wurde zB. die Steuernummer aufgehoben und dadurch der ganze Betrieb lahmgelegt. Da sind Uniformierte in die Büros gekommen und haben eine leitende Angestellte sogar mitgenommen. Ihnen wurde der Missbrauch von Geldern vorgeworfen, das stand auch so in den Zeitungen. Da agieren dann Medien und Regierung immer schön orchestriert. Im Nachhinein waren alle Vorwürfe falsch, aber wenn so etwas einmal an dir klebt, bleibt auch etwas davon zurück.


x Passiert das oft?

Wöchentlich, natürlich nicht immer so groß, aber ja. Die Regierung will die Menschen wissen lassen: Egal, wer du bist und was du kritisierst, wir werden irgendetwas gegen dich finden oder erfinden. 


x Sie sprechen von der Regierung. Die ungarische Regierung agiert so und alle wissen das?

Nicht direkt. Sie haben den guten Mann dafür, der sich in Sachen Öffentlichkeit auskennt und die Medien professionell manipulieren kann: Árpád Habony. Offiziell hat er keine Funktion in der Regierung. In Wahrheit aber ist er DER Berater in Sachen Medien. Der innerste Zirkel der Orbánleute kennt sich seit dem Jurastudium in den 1980ern. Der um einige Jahre jüngere Habony war Mitte der Nullerjahre dann auf einmal da und stieg rasch auf. Heute ist er so etwas wie Göbbels, nur halt nicht offiziell. 

Ein Beispiel, was alles möglich ist: István Nyakó, ein linker Politiker, wollte ein Referendum über die Sonntagsöffnung einreichen. Die Regierung bekam Wind davon und als er beim zuständigen Amt den Antrag einbringen wollte, standen da 15 bis 20 Bullytypen, so richtig auftrainiert, mit Glatzen, martialisch sahen die aus, und hinderten ihn daran. Nicht physisch, das brauchten sie gar nicht. Diese Bullies gehörten zu einem Fußballverein, dessen Besitzer sehr regierungsnah ist. So konnte eine Strohfrau, die dafür wohl beauftragt wurde, ihren Antrag, der ein Gegenantrag war, zuerst einreichen. Und in Ungarn ist es Gesetz, dass der erste Vorschlag zuerst drankommt. 


x Wissen das die Ungarn?

Nein, denn trotz Internet erreichen die Medien, die durch die Regierung gesteuert werden, an die 75 Prozent der Bevölkerung. Die Menschen informieren sich nicht anders und glauben also alles, was irgendein Regierungssprecher über irgendwelche „Feinde“ sagt. Das ist übrigens kein Stadt-Land Dilemma. Das ist in Budapest nicht anders. Da können Botschaften leicht einsickern, so wie die Rhetorik gegen Flüchtlinge. Man darf nicht vergessen, es gibt in Ungarn kaum Flüchtlinge, das ist ein Phantom. 


x Wo informieren Sie sich?

Es ist schwierig, sich nicht durch die Einheitsmedien zu informieren, weil unabhängige Quellen immer seltener werden. Ich lese das Hungarian Spectrum, index.hu, 444.hu und atlaszlo.hu, wobei letztere eigentlich kein Nachrichtenportal ist, sondern sich um Korruption kümmert, wie ein watchdog. Sie werden von der Soros-Stiftung unterstützt, das ist aber auch öffentlich einsehbar und kein Geheimnis. Ich selbst spende jedes Monat einen kleinen Beitrag.


x Warum haben sie aufgehört, sich zu engagieren?

Ich bin freiberufliche Übersetzerin und wie ich vorhin schon gesagt habe, habe auch ich alles ehrenamtlich gemacht. Eine Zeitlang konnte ich bei den Verlagen Aufschübe erwirken, aber ich muss meine Familie ernähren. 


x Gab es einen speziellen Moment, ein Erlebnis?

Nein, es gab keinen Schockmoment per se. Es war ein sich mehr und mehr aufbauendes Gefühl von Zermürbung. Es ist mir aber auch wichtig zu sagen, dass es keinen Druck auf mich gab, ich habe mich nicht bedroht gefühlt und ich war nie in Gefahr.


x Wie ist das Bild, dass in Ungarn von Österreich gezeichnet wird? Wir haben da im Zuge unserer Recherchereise einige überraschende Vorurteile gehört, wie etwa, dass wir Österreicher sagen, dass alle Ungarn stehlen. 

Nein, davon weiß ich nichts. Es ist aber sicherlich kein einheitliches Bild, dass die Ungarn haben. Österreich ist, um ehrlich zu sein, den Ungarn ziemlich egal. Nicht einmal eure Präsidentschaftswahl wurde groß thematisiert. Den normalen Ungarn interessiert nur, ob er einen Job als Kellner in Österreich bekommt. Da ist Trump schon interessanter und da ist spannend, dass in Ungarn gesagt wird: Wer Trump nicht mag, der mag Hillary und dann bist du ein Drecksliberaler.  Auch die EU wird immer heftiger und derber kritisiert. Orbán selbst lässt immer wieder so Sätze fallen: „Die EU oder Brüssel will, dass wir dieses oder jenes machen. Aber sicher nicht!“ Diese Rebellenhaltung, das mögen die Menschen. Das Geld von der EU nehmen wir übrigens schon gern, aber auf die Richtlinien pfeifen wir. 


x Wird Orbán als guter Politiker wahrgenommen?

Sicher von vielen. Ich finde, er ist ein geschickter Politiker. Die Flüchtlingswelle, die war ideal für ihn und er hat sie auch ideal genutzt. Einerseits konnte er so von der Korruption und den vielen Krediten, von denen Ungarn immer mehr und mehr braucht, ablenken und andererseits sich als konsequenter, erzkonservativer Macher oder Leader aufspielen. Er konnte sagen, dass Ungarn seine Pflichten als EU-Mitglied erfüllt, wir bewachen die Schengen-Grenze. Ihr, die EU und Deutschland, ihr habt uns im Stich gelassen. Wir haben eure christlich-europäischen Werte beschützt. Ihr wisst nicht, was zu tun ist, ihr seid unsicher. 


x Ist Rassismus ein Problem in Ungarn?

Wir haben die Jobbik! Ihre Abgeordneten kommen zwar nicht mehr mit Uniform ins Parlament, manchmal trägt der ein oder andere noch seinen Mantel.  Aber eigentlich wollen sie sich gerade domestizieren, moderater in allen Bereichen werden. Mit Ausnahme der Roma, denen sind sie nach wie vor sehr feindlich gegenüber. Seit der Wende, kannst du alles über Roma sagen, deine Witze machen, während des Kommunismus war das tabu. Auch die Regierung unternimmt nichts, um die Lage der Roma zu verbessern, weil sie sie A auch nicht mögen und B es in der Bevölkerung populär ist, auf Roma zu schimpfen. 


x Wie lebst du mit deiner Einstellung in Ungarn?

Ich habe fast 1.000 Kontakte auf Facebook, die fast ausschließlich so denken wie ich. Ich sage immer, ich lebe unter einer Haube. Es ist immer schockierend Mitbürgern zu begegnen, die fremdenfeindlich sind. Meine Freundin, sie wohnt in der Wohnung unter mir, ist letztens im Lift mit einer anderen, älteren Nachbarin gefahren. Zwanzig Sekunden dauerte das vielleicht. Das einzige aber, was die ältere Dame gesagt hat, war, dass es nur zwei Dinge gibt, an denen man sterben kann: minus 20 Grad und Migranten. Solche Sprüche sind überall in der Luft, aber wir hören sie nicht, oder kaum, weil wir unter der Haube sind. 


x Wie würdest du dich politisch einordnen?

Ich stufe mich nicht als liberal ein, weil liberal klingt für mich nach einem schwachen sozialen Netz. Ich bin sozial, links, vielleicht linksliberal. 


x Wieso denken Sie so und der Großteil Ihrer Mitbürger_innen ganz konträr? 

Ich weiß nicht, warum ich so geworden bin. Meine Eltern sind linksliberale Menschen. Ich glaube aber, dass meine Mitmenschen gar nicht rechts sind, obwohl sie Fidesz wählen. Sie wollen nicht nachdenken. Sie wolle eine Macht, die alles bestimmt, die sagt, wo es lang geht. Sie wollen einen Führer.


x Denkt die Generation, die in den 1980ern geboren ist, auch so?

Ich finde das eine ganz tolle Generation. Sie ist ganz anders als meine. Die Jungen sind sozialer, also nur die mit einem akademischen Grad leider. Aber sie sind stark, sie wollen etwas verändern, sie wollen sich ein schöneres Land aufbauen. Die Leute von Momentum zum Beispiel.


x Wie sehen Sie die Zukunft?

Ich bin überhaupt nicht optimistisch, im Gegenteil. Mein Eindruck ist, dass wir noch ein paar Jahre haben, zwei vielleicht, bis zur Wahl 2018, den Trend zu stoppen. Wenn sich bei der Wahl 2018 nichts ändert, dann marschieren wir auf einen Bürgerkrieg zu. Ich sehe zwar keine kritische Masse, aber viele Menschen werden sehr enttäuscht sein, sie sind es ja jetzt schon. Enttäuscht von der Regierung, von ihren Chancen. Das sind gut ausgebildete, motivierte junge Menschen, die keine Zukunft in diesem Staat sehen. Ich bin gegen Gewalt, verstehe aber, warum manche Menschen gewalttätig werden könnten. Vielleicht weil sie Angst haben, Angst, dass sie selbst zu Opfern werden könnten. Nicht von der Regierung, aber von der Stimmung, die durch die Regierung geschürt wird.