Gehen als Pause. Durch Wald und Feld in Südwestfrankreich 


von Anna Eckert


Aus Anlass der Pause erkundet querstadtein in dieser Ausgabe keine städtischen Räume, sondern begibt sich querfeldein in die ländlichen. Dort erwartet die Städterin meditatives Gehen in den Weinbergen und Pflaumenhainen westlich der Stadt Bordeaux. Denn da liegt das größte buddhistische Kloster Europas.

Ich erreiche Südwestfrankreich mit dem Zug. Ich nehme mir vor, mich mindestens die ersten drei Tage nicht auf die nach der Pause bevorstehende Präsentation, die mir fest im Nacken sitzt, vorzubereiten. Im Zug noch letzte Vorkehrungen meiner Auszeit, abreißende Anrufe und eine Nachricht an meine Mutter, dann schalte ich das Telefon für eine Woche aus. Viele Gäste kommen mit demselben Zug an und wurden von mir bereits beim letzten Umsteigen auf Grund der Sprache oder der Kleidung sondiert, ich selbst bin mit meiner Yogamatte am Gepäck leicht erkennbar. Auch für diese StädterInnen ist der Pausenort ein Sehnsuchtsort.

Schwestern holen uns ab. Die ordinierten tragen lange braune Gewänder. Unsere zierliche Lenkerin fährt den Kleinbus ruckartig, aber furchtlos. Sie ist mir sofort sympathisch. Wir verlassen die Stadt. Die Straßen Richtung Kloster werden immer schmaler. Ich lasse den Blick über Sonnenblumenfelder und Weinberge streifen, ein letztes Dorf, dann nur noch Felder, einzelne Häuser.

Auf dem abgeschiedenen Gelände stehen alte Steinhäuser und neuere Gebäude, dazwischen Kieswege, Gärten und ein Lotusteich. Gelegentlich sind die Glocken der nächsten Dorfkirche zu hören, sonst kaum Geräusche der Zivilisation. Hier gibt es keine Beschallung, keine Durchsagen und keine Werbetafeln.

Gehmeditation stellt im Zen-Buddhismus eine Möglichkeit der aktiven Meditation dar. Bei dieser dürfen wir, wie das Kompositum anzeigt, eher das Meditieren üben als das Gehen.  Wir sollen uns erlauben, zu entspannen. Dazu ein Lächeln, so die Einführung. Die tristen Gesichter in Berlin oder Wien gewöhnt, genieße ich das. Ich lerne zu lächeln und nehme all das mir entgegengebrachte Lächeln auf. Draußen zu sein, sich zu bewegen in Stille und Zeit zu haben – meine Erholung setzt augenblicklich ein.

In das Kloster kommt, wer eine Pause sucht. Eine Pause von der Familie, dem Chef oder dem Telefon. Leute, die sich von einem Burnout erholen, sich einer Depression oder Angststörung stellen, sowie Leute, die das Pausieren schon können, es aber vertiefen möchten. Ich habe einen hohen Berg hinter mir, eine Abschlussarbeit, und blicke auf einen hohen Berg vor mir, die Präsentation derselben. Ich wünsche, dass sich diese Berge relativieren. Im Kloster geht es nicht ums Beweisen, die Vorführung oder um Titel. 

Meist gehen wir als ganze Gruppe vor dem Mittagessen. Eine Schwester geht vor, still und langsam. Sie meistert die Entschleunigung und bewacht das Tempo. Ich drossle meinen Körper, der zielstrebige Eile gewöhnt ist. Ich beruhige meine Gedanken, die bevorzugt noch mit dem Ausgangsort oder bereits mit meinem Ziel beschäftigt sind. Ich übe wahrzunehmen, was augenblicklich in und um mich vor sich geht. Ich soll für mich selbst präsent sein. Alles Gehen könnte irgendwann bewusst sein, d.h. konzentriert auf die Fußsohlen, das Tarieren des Gleichgewichts, die mentalen Diskurse und die aufkommenden Gefühle. Die Gehmeditation ist dem Flanieren hinsichtlich der Bewegung und der Beobachtung verwandt, richtet jedoch die Wahrnehmung nicht auf Straßen, Läden und soziale Ereignisse, sondern stärker auf innere Vorgänge.

Ich bin ungeduldig. Ich bin zufrieden. Ich bin absolut angetan von der Feuchtigkeit auf den Blättern eines Baumes, von den frisch geschnittenen Erdschollen auf dem Feld. Ich kenne diese Wahrnehmungsverstärkungen sonst nur unter Einfluss von Drogen. Mir wird klar, dass diese Klänge, Farben und Formen immer da sind, ich sie jedoch für gewöhnlich nicht bemerke.

Wir gehen über eine Wiese. Ständig urteile ich, denke, wie genießerisch der Mann vor mir geht, die Fußsohlen in das Gras drückt. Ich zögere, ob auch ich die Schuhe ausziehen soll. Ich denke, extra an den Rand gehen und anhalten? Ich atme ein. Ich atme aus. Merke, dass ich zwar hier bin, aber auch immer wieder anderswo. Ich spüre, wie weich der Untergrund ist, wie ich auf das Gras oder einen Ast trete, ich konzentriere mich auf meine Sohlen. Ich taxiere, wer sich mir zu schnell bewegt, bewundere das Kind, das offenbar ohne Redebedürfnis geht. Und schon bemesse ich mit meinem unbewussten, urbanen Prüfblick die Frau vor mir, deren Körperlinien sich durch die enge Kleidung abzeichnen und die mir zu mager erscheint. Es kann sehr unangenehm sein, die eigenen Gedanken wahrzunehmen. Ich konzentriere mich wieder auf das Atmen. Wir gehen an Hagebuttensträuchern vorbei. Sich eine Hagebutte nehmen, ja oder nein, denke ich. Das machen manche. 

Ich versuche wieder zu gehen, nicht weiter an die Hagebutten zu denken, nicht an das Mittagessen. Ich massiere beim Gehen meine Füße am Boden. Ich sehe die zwei, die eingehakt gehen. Jene, die mir zu langsam gehen. Man soll auch aufschließen, erinnere ich die Einführung, die Gruppe soll vor lauter Fühlen nicht auseinanderfallen. Ich gehe in die Lücke und lade dadurch andere ein, die Gruppe zusammenzuhalten. Ziel ist, wahrzunehmen, ohne zu urteilen. Meine erste Übung ist, meine Urteile wahrzunehmen.

Ich gehe mal im vorderen Teil der Gruppe, bei den Pionierinnen der Erkundung. Ich gehe mal weiter hinten, da fühle ich den Rausch des gemeinsamen Gehens. Ich bin für mich, allein, aber zusammen mit anderen, die auch für sich sein können. Lange ist die Gruppe kompakt und flüssig, ich bemerke, wie gerne ich leichte Steigungen gehe, mich freut die erhöhte Bodenhaftung. Dann staut sich die Gruppe am Waldrand, auch wenn wir noch so langsam gehen. Der Schwarm von Gehenden vereinzelt sich in eine Ameisenstraße, denn der Weg in den Wald ist ein Trampelpfad. In Gedanken formuliere ich plötzlich einleitende Sätze meiner Präsentation. Mir wird heiß, mein Herz pumpt schneller. Durch die Baumkronen fällt Licht.

Ich gehe, 

ich atme ein auf zwei Schritte, 

aus auf drei Schritte. 

Das Ausatmen kann länger dauern, Einatmen möchte ich unmittelbar. Ich gebe das Zählen des Atems wieder auf, versuche, die Luft frei ein- und ausströmen zu lassen. Lächeln.

Uns kommt ein Junge entgegen. Er geht abseits vom Weg im Unterholz und ich frage mich, was er sich wohl denkt. Ich denke, was macht er mit dem Stock in der Hand, den er wie einen Speer trägt? Was denken die Tiere von uns, die Rehe von dieser Gruppe Homo Sapiens, die leise gehen, niemand rennt, niemand stolpert, niemand ruft, niemand rempelt jemanden an. Menschen, in der Zeit von autonomem Fahren und städtischer Gehbeauftragter, die nur gehen wollen. Die gemeinsame Gehmeditation soll innere Ruhe und Energie erzeugen. Das sagt sich so, aber der Unterschied zu meinem sonstigen Alltag, zu Stress und geistiger Abwesenheit der Menge in der U-Bahn ist merklich. 

Wir verlassen den Wald wieder und gehen gelöst übers Feld. Ich höre die Pappelblätter aneinander rascheln. Das Geräusch der Wanderschuhe vor mir. Wieder am Kloster angekommen, neigt die erste Nonne den Kopf und legt die Handflächen vor der Brust aneinander. Wir bedanken uns auf gleiche Weise. 

Ich habe den Berg vor mir betrachtet und meine Angst wahrgenommen. Ich werde mich vorbereiten und es wird gut werden. Der Poet und katholische Einsiedler Robert Lax formulierte das einfach wie folgt: „one / well- / chos / en // step / at / a / time.“


Literatur:

Thich Nath Hanh: Einfach Gehen. München 2016 / How to walk. Berkeley 2015.

Michael N. McGregor: Pure Act. The Unkommon Life of Robert Lax. New York 2015.