PAUSE IN DER STADT: NUR WO?

 

Unsere freie Redakteurin Eva Reisinger hat sich für die Ausgabe "PAUSE" gefragt: Wo macht man eigentlich Pause in der Stadt? 

 

Ich habe sechs Plätze in Wien besucht, die das Wort Pause im Titel tragen. Auf der Suche nach Erholung fand ich auch andere Geschichten: über blaues Licht, Schmerzen, SS-Soldaten und den Kampf gegen die Digitalisierung. 

 

Es wirkte in den letzten Jahren fast modern, gestresst zu sein, keine Zeit für sich zu haben. Mit dem iPhone in der Hand ins Bett zu fallen oder erst gar nicht zu schlafen – galt als Zeichen des Erfolges, des Ehrgeizes. Jemand zu sein. Es gibt Gründe dafür, warum sich Begriffe, wie der einer »schlaflosen Elite« etablieren konnten. Donald Trump und Barack Obama sind der Meinung, dass vier Stunden Schlaf in ihrem Job ausreichen müssen. Auch Twitter Gründer Jack Dorsey und Yahoo-Vorstandsvorsitzende Marissa Mayer scheinen mit der Hälfte dessen, was als gesunder Schlaf erachtet wird, auszukommen. Abgesehen vom Schlaf, wieviel Zeit dieser Elite für ihr Privatleben oder sich selbst bleibt, sei dahingestellt.

Dabei sind Pausen überlebenswichtig. Katja Schmalzl arbeitet als systemischer Coach in Wien und hilft ihren Kunden dabei das Pausemachen, zu erlernen. Sie vergleicht die optimale Balance zwischen An- und Entspannung gern mit dem Herz, dort funktioniere es nämlich ganz automatisch. »Anspannung, Entspannung immer im Wechsel. Genau das ist es, was uns am Leben erhält.« Wer das missachtet, muss früher oder später mit körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Ein- und Durchschlafstörungen und erhöhtem Blutdruck rechnen. »Um es kurz zu machen, es ist total gesundheitsschädlich.«

Einmal nichts zu tun, ist aber leichter gesagt, als getan. Jede Aufgabe, die wir heute verfolgen, hat ein Ziel. Wir sind es gewohnt, viele Dinge gleichzeitig zu erledigen. Unsere Gedanken drehen sich konstant um den nächsten Schritt. Schmalzl sieht einen Grund, warum es uns so schwer fällt, Zeit für uns selbst zu nehmen auch darin, dass wir das Gefühl haben, es wäre falsch. »Nimmt sich jemand eine Auszeit, kümmert sich gut um sich selbst, entsteht schnell der Eindruck, egoistisch zu sein oder sich zu wichtig zu nehmen.«

Wo findet man in Wien also eine Pause, etwas Erholung, eine Auszeit? Google bietet ganze 4.480.000 Ergebnisse für »Pause in Wien«. Nach Katja Schmalzl gibt es kein Allheilmittel, sondern nur viele individuelle Wege. »Immer wieder verschiedene Dinge auszuprobieren und zu testen, ob sie zu Erholung führen«, mache Sinn.

 

 

»Gemeinschaftspraxis Pause« - Schmerzen in der Pause

 

 

Die Kälte klirrt, den Schnee kann man riechen. Die Straßen sind voller frischer weißer Flocken. Es ist einer dieser Tage, die so kalt sind, dass die Hand zu vereisen droht, wenn der Handschuh sie kurz nicht mehr schützt. Maximilian Jens kommt an diesem Tag trotzdem mit seinem Roller in die Arbeit. Um nicht im Stau zu stehen, um pünktlich zu sein und um die Praxis vorbereiten zu können. Als er seinen Helm in der Eile abnimmt, fällt seine schwarze Brille fast auf den Boden. Sein geschorener Kopf ist rund und glatt wie ein Ei. Er ist 35, trägt keine Jacke, nur ein Fleece. Er öffnet die Tür, dreht die Heizung auf und bereitet Tee vor. Alles muss einladend sein, schließlich soll man sich in der »Gemeinschaftspraxis Pause« wohlfühlen.

 

»Bei uns dreht sich alles um die Pause«, erklärt der ausgebildete Physiotherapeut. In seine Praxis kommen Menschen mit Schmerzen. Sein Schwerpunkt liegt auf Behandlungen nach dem Prinzip der Ortho-Bionomy. Diese wurde von einem Osteopathen begründet und besagt, dass alles im Körper zusammenhängt. Schmerzen in der Schulter können also beispielsweise ganz woanders ihren Auslöser haben. Darum beschäftigt er sich in seiner Therapie auch immer mit dem ganzen Körper: »Wenn im Auto eine Warn-Lampe aufleuchtet, dann wechselt man ja schließlich auch nicht die Lampe aus, sondern das Öl«, so Jens.

 

Hier in der Gemeinschaftspraxis sollen seine PatientenInnen vor allem Ruhe finden. Zwischen Gongs, bunten Bildern, hellen Holzmöbeln und schlammfarbigen Handtüchern. Wirklich interessant ist seine Erkenntnis, dass Schmerzen erst in der Pause kommen: »Wer unter Stress steht oder sehr intensiven Sport ohne Pausen betreibt, stößt eine Menge an Stresshormonen aus. Erst wenn der Mensch in eine Ruhephase kommt, spürt er sich selbst und den Schmerz stärker.« Diese »Pausenhormone« schlagen auch zu, wenn man zu Urlaubsbeginn, nach einer großen Prüfung oder zu Weihnachten krank wird.

 

Die Ortho-Bionomy nähert sich dem Schmerz sehr behutsam, fast auf Zehenspitzen an. Jens beginnt die Therapie mit dem »Prinzip der freien Richtung«. Er führt es an meinem Körper vor. Dazu dreht er mein Bein nach außen und innen und fragt mich, welche Bewegung angenehmer für mich ist. Die angenehme Richtung, rechts, wiederholt er. Immer wieder. So soll sich schließlich auch die weniger angenehme Richtung besser anfühlen. »Die Menschen haben oft ein sehr starres Bild, wie die Welt und ihr Körper funktionieren sollen. Sie versuchen alles nach ihren Vorstellungen zu biegen, das funktioniert nicht.« Häufig seien diese falschen Erwartungen ein Katalysator für Beschwerden. Der Körper kommuniziert so. Er gibt uns »Signale«, wie Jens gerne sagt.

 

Der Begründer der Ortho-Bionomy Arthur Lincoln Pauls hat übrigens einmal sinngemäß gesagt: Die Pause zwischen den Noten macht die Musik. Also Schmerzen nicht mehr ignorieren, Pause machen und »Ohmmm«.

 

»Die gesunde Pause« - Shopping, Erholung und der Blonde mit dem Judenstern

(Nachname Redaktion bekannt, will ihn aber nicht in „der Zeitung“ sehen)

 

Wenn Waltraud N. morgens aufwacht, spürt sie bereits den Geschmack auf ihrer Zunge. Sie hat Lust auf das Balsamico-Dressing des Salats, den sie so gerne in der gesunden Pause isst. Sie kann nicht anders.

 

»Heute habe ich mir fest vorgenommen nicht zu kommen. Das ist bereits ein Suchtverhalten«, scherzt die 75-jährige Steirerin und plauscht mit den Verkäuferinnen in der Drogerie. Die Roggen-Semmel zum Salat lehnt sie dankend ab, schiebt ihren roten Trolley hin zum Tisch, zieht sich ihre dunkelgrüne Steppjacke aus und beginnt freudig zu essen. Hinter ihr stehen Zahnbürsten im Regal, auf der anderen Seite werden Ponchos abverkauft. Hektisch schieben Menschen ihre Wägen voller Hygieneartikel an ihr vorbei. Kinder flitzen durch die Gänge. Frau N. bekommt davon nichts mit, sie isst genüsslich ihre Tagessuppe. Dann steht sie auf, bittet die Verkäuferin um mehr Schnittlauch. Während diese nach der Tupperware-Dose kramt, plaudern sie über die Familie. Sie kennen sich. Alle hier kennen Frau N. und ihre beiden Hunde Pascalito und Nico. Die müssen aber vor dem Geschäft auf ihr Frauchen warten.

 

Vor einem Jahr kaufte sie in die Drogerie auf der Mariahilfer Straße ein und probierte den Salat. Seither isst sie jeden Tag hier, wenn sie in Wien ist. Nebenan ist ihre Bank und wenn sie sich nach dem Besuch dort ärgern muss, kommt sie noch viel lieber hier her, erzählt sie mir. »Für mich ist das mein Ruhepol. Ich bekomme die ganze Hektik gar nicht mit«, erklärt sie. Sie arbeitet in ihrer Pension hobbymäßig als Leih-Omi und geistige Heilerin, hat einen chicen grauen Bob und türkisen Kajal unter den Augen. Während sie von der heutigen veganen Suppe schwärmt und erzählt, dass ihre Tochter Veganerin ist, stibitzt sie sich immer wieder Stücke eines Kornspitzes aus ihrem roten Trolley.

 

Sie will viel über mich wissen. Ich erzähle ihr, dass ich aus Oberösterreich stamme. »Was haben Oberösterreich und die Steiermark gemeinsam?« fragt sie mich mit einem Grinsen im Gesicht. Ich schüttele den Kopf. »Die Rechten«, schießt es aus ihr heraus. Und sie beginnt zu erzählen. Ihre Mutter heiratete einen Mann mit SS-Einfluss, der ihr Stiefvater wurde. Ihr Großvater hingegen kämpfte im Widerstand und wurde, wie es heißt, von einem betrunkenen Nationalsozialisten nach Ende des Krieges im Zuge der Kremser Hasenjagd nahe St. Pölten erschossen.

 

Letztens im Aufzug sah sie dann etwas, das sie lange nicht mehr gesehen hatte. Das Bild geht ihr seither nicht mehr aus dem Kopf. Es erinnert sie an ihre Kindheit. Ein großer Mann mit strohblonden Haaren stand im Lift neben ihr. Er trug einen schwarzen Ledermantel, der bis auf den Boden ragte. Als er den Knopf drückte, sah Frau N. einen roten Judenstern auf seinem Arm. »Sie wissen, welche Assoziationen der Stern auf Ihrer Schulter weckt?«, fragte sie den Mann. »Ich bin Physiker. Auf Religion lege ich keinen Wert«, antwortete er mit einem verachtenden Grinsen im Gesicht und stieg aus.

 

Frau N.s Augenbrauen ziehen sich verärgert zusammen, als sie davon erzählt. Für sie war dieser Mantel mehr als eine Provokation, es war ein Flashback. Ein Flashback in furchtbare Zeiten. Danach brauchte sie ganz dringend eine Pause. Einen Salat. Etwas Abstand von den Menschen.

 

»Die blaue Pause« - Licht gegen Wiener Depressionen

 

Als Verena Rainer im Dezember 2015 die UV-Brille abnahm und von der Liege aufstand, fühlte sie eine bedingungslose Freude. Ohne Auslöser. Ohne Lotto-Gewinn. Ohne neuer Liebe. Am nächsten Tag flog sie von Seattle zurück nach Wien. Sie hatte Angst vor dem Jetlag. Doch auch als sie aus dem Flugzeug stieg, fühlte sie sich gut. An diesem Abend konnte sie trotz neunstündiger Zeitumstellung einschlafen. Für Verena Rainer war das ein kleines Wunder. Sie machte die zwanzig Minuten im Blu Room nahe Seattle dafür verantwortlich. Wien braucht auch so einen Raum, war sie sich sicher. Wenige Monate später erwarb die heute 57-jährige die Lizenz und ließ sich einen blauen Raum im achten Bezirk in der Tigergasse 3 bauen.

 

In diesem Raum, der von außen wie eine Sauna aussieht, sollen durch die spezielle Bestrahlung, Geometrie und Atmosphäre die Gehirnwellen in nur zwanzig Minuten von dem alltäglichen Zustand hin zu Alpha- oder Thetafrequenz gelangen, in die es sonst nur erfahrene Meditierende und Yogis schaffen. Diese Frequenz soll Menschen mit Depressionen, Schmerzen oder Stress helfen, abzuschalten und auch noch die Kreativität ankurbeln. Gerade in Wien sei Entspannung, Abschalten oder eben eine Pause bei all den Depressionen wichtig. »Jeder grantelt den anderen an. Wien ist eine depressive Stadt«, meint die Geschäftsführerin und führt das auf die Abhängigkeit der ÖsterreicherInnen zurück. Wir hätten nie gelernt uns zu behaupten und würden immer darauf warten, dass andere unsere Probleme lösen.

 

Wer den achteckigen Raum betreten will, muss zuerst einmal warten. Behutsam legt Rainer einen Teppich auf den verspiegelten Metallboden, als wäre der Boden aus heißem Wachs. »Bam!«, dann startet das ultraviolette Licht. Ein bisschen wie im Solarium. Nur, dass man seine Klamotten anbehalten darf. Es ist warm. Nach drei Minuten ist es vorbei. Die restlichen siebzehn Minuten verbringt man mit Entspannen in der »besonderen Atmosphäre«. Neben der Liege stehen Flaschen voller Wasser. Rainer wird mir später von dessen Wirkung auf Tiere, insbesondere Katzen, berichten. Während ich den blauen Raum ausprobiere, kann ich mich nicht so recht entspannen, da ich die ganze Zeit versuche etwas zu fühlen, das nicht passieren mag.

 

Danach erzählt mir dir Geschäftsführerin zahlreiche Erfolgsgeschichten von gestressten und kranken Menschen. An einen Moment kann sich Verena Rainer gut erinnern. Vor Kurzem fragte sie eine 17-jährige, wie sie den Blu Room-Besuch erlebt habe. Die junge Frau antwortete, sie sei gerade zum ersten Mal in ihrem Leben ganz allein gewesen. Ohne ihrem Smartphone.

 

»Die blauPAUSE« - Basteln gegen die Digitalisierung

 

 

Noch vor dreißig Jahren hing eine nackte Glühbirne im Geschäft in der Hetzendorfer Strasse 69 von der Decke. »Papiergeschäft« stand auf dem Schild. In den Regalen fand man vieles mehr: Von Klopapier über Rattengift bis hin zu Modeschmuck. Im vorderen Raum war das Geschäft, hinten lebte der Inhaber. Dann kauften Klaus Rainer und seine Frau dem 85-jährigen das Geschäft ab. Ein Papiergeschäft vis-à-vis der Handelsakademie sei eine »sichere Sache«, dachte sich Herr Rainer damals. Ein ehemaliger Kollege belächelte ihn, ob er verrückt sei, jetzt komme das papierlose Büro. Etliche Jahre lief das Geschäft gut. Nach und nach begannen die Menschen aber ihr Papier in Großmärkten zu kaufen. Geld nahmen sie vor allem durch den kleinen Drucker im Geschäft ein. Dann ließen sich Rainer und seine Frau scheiden und sie stieg aus dem Geschäft aus.

 

An den Wänden im Büro hängen heute viele private Fotos, das Gedicht Vergnügungen von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1954, Katzenfotos, Plastikrosen und Karten mit Sprüchen. »Ich wollte wieder etwas mit Papier machen, aber es musste sich anders anfühlen«, erzählt der 59-jährige heute. Seine Haare sind mittlerweile ergraut, unter seinen Augen tiefe Ringe, er spricht sehr leise und lächelt viel.

 

Nach und nach schaffte er sich mehr Drucker an, lernte sich selbst Textil- und Siebdruck, sowie das Entwerfen von Logos. Er entschied sich auch für einen neuen Namen: »blauPAUSE«. Früher wurde beim Durchpausen schließlich blaues Papier untergelegt, das erschien Herrn Rainer passend, auch für seine eigene Geschichte. Er mag Ursprüngliches, keine englischen Namen, keinen »Copyshop«, sondern die »Druck- und Kopierwerkstatt blauPAUSE«.

 

Heute kommen immer wieder ehemalige Schüler aus der Handelsakademie mit einem Baby auf dem Arm, um Taufeinladungen zu drucken, erzählt er mit einem Grinsen auf den Lippen. Die blauPAUSE ist mittlerweile voller Drucker. Um Platz zu sparen, entwarf er Schienen für einen Drucker, aus einem Wickelregal von IKEA wurde eine Geschenkverpackungsstation und die Geräte zum Siebdrucken hat er selbst nach YouTube-Tutorials gebaut. Eine Kundin mit Hut und Hund kommt ins Geschäft. »Ich habe eine Bastelaufgabe für Sie«, flötet sie mit einem Lächeln im Gesicht wie ein Spitzbube, der einen Streich plant. Sie gibt ein Kuvert in Form eines roten Schuhes in Auftrag. Sie will ihrem Enkel darin morgen Geld schenken. Für Sonderaufträge dürfe man sich heute nicht zu schade sein, so Rainer, nur so könne man mit den großen, unpersönlichen Druckfirmen konkurrieren.

 

Rainer geht in sechs Jahren in Pension. Länger als zehn Jahre wird es Druckereien wie die seine, auch nicht mehr geben, glaubt er zumindest. »Von einer papierlosen Gesellschaft sind wir weit entfernt, aber heute bestellt ja jeder online.« Nur die Friseure werden in Zukunft noch genügend Kundschaft haben. »Auch in zehn Jahren wird man sich die Haare noch nicht im Internet schneiden lassen können«, sagt er und lacht.

 

Länger als ein Wochenende kann sich der Inhaber selten freinehmen. Er brauche aber keine großen Pausen, denn er liebe seinen Job. Die Druckerei ist sein Vergnügen. Vielleicht hängt darum auch das Brecht-Gedicht auf grün gedrucktem Papier so präsent in seiner Küche.