Ein Sommer in Tiflis oder: Über das wiederkehrende Bedürfnis nach Entfremdung

(Von Tino Schlench)

 

I.

Es vergeht kein Tag, an dem das Thermometer nicht auf mindestens 32 Grad ansteigt. Vor allem in der schwülen Hitze des Nachmittags wage ich mich kaum vor die Tür, da die Sonne zu diesem Zeitpunkt besonders unbarmherzig brennt. Ein leichter Schweißfilm auf der Stirn ist in den vergangenen Wochen zu meinem ständigen Begleiter geworden. An guten Tagen habe ich mich bereits am Vormittag in die klimatisierte Nationalbibliothek gerettet, in der ich eher unmotiviert an Allfälligem arbeite. An anderen Tagen, die keine schlechten sein müssen, sitze ich am Schreibtisch meines angemieteten Zimmers im Viertel Sololaki, starre auf den Bildschirm meines Laptops und lausche dem Lärm unter meinem Fenster.

Mein Vermieter Gregori will mir weismachen, dass das vermehrte Verkehrsaufkommen, das die einspurige Fahrbahn drei Stockwerke tiefer zuweilen in eine zweispurige verwandelt, notwendigen Straßenarbeiten geschuldet und unsere Wohngegend für gewöhnlich eher ruhig sei. Ich glaube ihm kein Wort. Doch lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass momentan an jeder Ecke der Stadt gebaut wird. Selbst mitten in der Nacht werden allerorts Straßen aufgerissen, Fassaden ausgebessert oder Schweißarbeiten vorgenommen, die das stille Dunkel der Gassen durchbrechen. Von allen Seiten wird mir versichert, dass die aktuelle Regierung die Bevölkerung des Landes vor den bald anstehenden Parlamentswahlen mittels infrastruktureller Maßnahmen auf ihre Seite ziehen will. Eine bekannte Strategie, deren Erfolg sich über die Jahre zwar abgenutzt hat, letztendlich aber von Erfolg gekrönt wurde: »Der georgische Traum«, wie sich die verhalten pro-westliche Partei des Ministerpräsidenten Giorgi Kwirikaschwili nennt, erhielt bei den Wahlen im Oktober 2016 die meisten Stimmen. Doch davon weiß ich im Moment des Schreibens noch nichts. Es ist August und ich verbringe den Sommer in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Was ich hier verloren habe? Nichts, eigentlich gar nichts.

Die Frage, was mich dazu bewogen habe, für einige Wochen im Kaukasus zu leben, begegnet mir unerwartet häufig. Die Ortswahl ist zu abwegig, um selbsterklärend zu sein, habe ich gelernt. Selbst in Tiflis wird bei einem jeden Kennenlernen eine ausführliche Rechtfertigung erbeten, gewissermaßen sogar eingefordert. Das mag an meiner Herkunft liegen. Denn im Land begegnet man vornehmlich Touristinnen und Touristen aus Russland – dessen Aristokratie die georgische Schwarzmeerküste bereits im 19. Jahrhundert als »russische Riviera« für sich vereinnahmte –, sowie aus benachbarten Ländern des Nahen Ostens. Als ein Besucher aus Mitteleuropa gehöre ich indes zu einer raren Spezies. Und so verlangt man nach einer Aufenthaltsbegründung. Zugegeben, ich bin ob des Interesses ein wenig geschmeichelt, fühle mich »besonders« und bin mir gleichzeitig bewusst, dass das idiotisch ist. Zuweilen würde ich gerne einen wirklich handfesten Beweggrund anbieten, um der Skepsis der Nachfragenden entgegenzukommen. Allein, ich kann es nicht. Mir steht kein gängiges Narrativ zur Verfügung, das in der Lage wäre, meine temporäre Wohnstatt plausibel erscheinen zu lassen. Doch gerade dieses Unvermögen sorgt in mir für eine entlegene Genugtuung, die sich mit der blödsinnigen Freude darüber verschränkt, einstweilen nicht alles durchdacht zu haben, nicht alles erklären zu können und damit nicht nur mir, sondern auch der Ratio eine kurze Pause zu gestatten. Aber wen will ich mit diesem Geschwurbel eigentlich beeindrucken?


II.

Ich habe keinerlei Bindung an dieses Land. Ich kenne niemanden vor Ort, niemanden, der bereits hier war und davon erzählt hätte. Insofern fehlen mir Erfahrungsberichte. Über die politische Situation in der Ex-Sowiet-Republik am Schwarzen Meer bin ich nur oberflächlich informiert. Und selbst das ist gelogen, denn im Grunde habe ich davon überhaupt keine Ahnung. Dass mit Abchasien und Südossetien gleich zwei größere Regionen Georgiens »abtrünnig« sind und sich als selbstständige Staaten betrachten – was mehr oder weniger bedeutet, dass sie aus geopolitischen Erwägungen unter russischem Einfluss stehen –, erfahre ich erst im Gespräch mit meinem Vermieter.

Während mir für gewöhnlich daran gelegen ist, ein Reiseziel bereits im Voraus über Musik und Literatur zu erschließen, motiviert von der naiven Hoffnung, dass mir dieser Zugang auch nur irgend etwas über den betreffenden Landstrich zu offenbaren vermag, setze ich diesmal auf reflektierte Ignoranz: Kein einziges Buch eines georgischen Autors oder einer georgischen Autorin habe ich gelesen, Artikel in Zeitungen und Magazinen strengstens vermieden. Was den Sound Georgiens betrifft, sind mir lediglich die lauwarmen Song-Contest-Beiträge der letzten Jahre präsent. Das Land stellt eine Leerstelle für mich dar, die im Verlauf der Reisevorbereitungen immer mehr zu einer diffusen Projektionsfläche wird, dies gewissermaßen zwangsläufig. Völlig einfältig möchte ich aber dennoch daran glauben, dass mir mein selbst aufoktroyiertes Unwissen zumindest ansatzweise dabei weiterhilft, mich ohne allzu konkrete Erwartungen auf meinen neuen Wohnort einzulassen. Dafür will ich mir Zeit nehmen, etwa sechs Wochen. Das ist ein bisschen zu wenig, um Tiflis als einen Wohnsitz zu bezeichnen, und ein bisschen zu viel, als dass der Begriff Ferienort wirklich angemessen wäre. Falsch ist er jedoch nicht, obwohl ich ihn nur widerstrebend verwende. Dies wohl vor allem deshalb, weil ich de facto nicht gerne verreise und klassische Ferien für mich in erster Linie Stress bedeuten. Hiermit beziehe ich mich vornehmlich auf den Prozess des Reisens, oder genauer: auf die damit verbundene Bewegung durch den Raum. Denn abgesehen von Zügen und langsam über das Wasser gleitenden Fähren lösen sämtliche Verkehrsmittel ein sinistres Unbehagen in mir aus. Mir wird schlecht und ich habe Angst, vor allem vor dem Fliegen, das mich in Panik versetzt. Daher lasse ich mich nur selten auf Unternehmungen ein, die aufgrund zurückzulegender Distanz den Gebrauch eines Flugzeugs empfehlen. Nur längere Aufenthalte sind dazu geeignet, mein wiederkehrendes Bedürfnis nach Entfremdung zu befriedigen. Denn die Zeit heilt nicht nur alle Wunden, sie betäubt auch den Gefahrensinn und lässt mich ruhig schlafen.

Was aber mein Begehren nach Entfremdung betrifft, so stellt dieses in gewisser Weise eine radikale Form des Fernwehs dar. Denn es gibt sich nicht allein mit neuen Eindrücken und Erfahrungen zufrieden, sondern entspricht vielmehr dem trotzigen Verlangen, vom Leben in seinen gewohnten Bahnen zu pausieren, loszulassen, sich bewusst einem Risiko auszusetzen und den freien Fall zu genießen – was nur deshalb möglich ist, da dieser selbstverschuldet ist. Und so ist es letztlich die Sehnsucht nach Haltlosigkeit und Ungewissheit, die mich nach Georgien verschlagen hat, einem Land, das sich von jeher in einem Zustand des Dazwischenseins befindet: zwischen Orient und Okzident, Tradition und Moderne, Souveränität und Okkupation. Das mögen Floskeln sein. Als leere Worte würde ich sie dennoch nicht bezeichnen.


III.

Mein Flieger landet mitten in der Nacht. Daran ist nichts ungewöhnlich und doch bin ich darüber erstaunt, wie geschäftig es auf dem Flughafengelände von Tiflis zugeht. Inmitten der aufgeweckten Menschenmenge vergisst man schnell, wie spät es eigentlich ist. Das Gewimmel der Ankunftshalle setzt sich vor dem Gebäude fort und löst sich erst in Richtung Hauptverkehrsstraße auf. Noch bevor ich mir draußen eine Zigarette anstecken kann, mit der ich mir zum überstandenen Flug gratulieren möchte, werde ich von einigen Taxifahrern umzingelt, die ihre Dienste lautstark zu fragwürdigen Preisen anbieten. Ich entscheide mich nach kurzer Verhandlung für denjenigen unter ihnen, der zuvor als erster auf mich zugekommen ist. Was nun folgt, kann wohl als ungewollter Initiationsritus ins Georgische bezeichnet werden. Denn bereits kurz nach Verlassen des Parkplatzes beschleunigt der Fahrer so ungestüm, dass es mich hart ins Sitzpolster drückt und mein Magen rebelliert. Hatte ich mich eben noch zum Überleben des Fluges beglückwünscht, muss ich nun erneut um mein Dasein bangen. Ohne Gurt, dafür aber mit über 140 km/h geht es über den Kakheti Highway ins Zentrum der Stadt, das in der Ferne schimmert. Nach einer Weile mündet der Highway in die George W. Bush Straße – passenderweise flankiert von Filialen der amerikanischen Fastfood-Ketten Subway und Dunkin' Donuts, deren Schriftzüge auch in georgischen Lettern sofort erkennbar sind. Unzählige Überholmanöver und enge Kurven später, lande ich an meinem Bestimmungsort. Gregori eilt sofort herunter, sieht kein bisschen müde aus und hilft mir mit dem Gepäck. Es ist vier Uhr in der Früh und ich bin angekommen.

Die Wohnung befindet sich im Südosten der Stadt, gleich in der Nähe des botanischen Gartens, dem einst größten der Sowjetunion. Da der mehrstöckige Altbau an einem Hang liegt, kann man von hier aus über weite Teile von Tiflis blicken, wovon ich ausgiebig Gebrauch mache. Ganz oben am Hang, in direkter Nachbarschaft, thront über allem ein bizarrer Metallklotz, den ich zunächst für ein Forschungsinstitut halte. Doch bei diesem architektonischen Scheusal handelt es sich zu meinem Erstaunen um ein »einfaches« Wohnhaus. Der futuristisch anmutende Palast – vom britischen Telegraph mit dem Namen »James-Bond-House« versehen – gehört dem Oligarchen Bidsina Ivanishvili, dem reichsten Mann des Landes. Selbiger zeichnet sich in seiner Rolle als einflussreicher Mäzen ebenso für ein weiteres bekanntes Bauwerk der Stadt verantwortlich: für die imposante Sameba-Kathedrale am anderen Ufer des Mtkwari-Flusses. Die Fernwirkung der größten Kirche der Kaukasus-Region ist enorm, glänzt der Bau aus Naturstein und Marmor doch bis zur Dachterrasse meiner Herberge, auf die mich Gregori zuweilen einlädt. Aus der Nähe aber erscheint der Prunk der georgisch-orthodoxen Apostelkirche nurmehr abgeschmackt. Im organischen Ganzen der Stadt wirkt das Bauwerk wie ein Fremdkörper – das hat es wohl mit mir gemein, nur dass ich selbst jederzeit verschwinden kann. Lieb gewonnen habe ich hingegen den alten Fernsehturm auf der Mtatsminda-Anhöhe, der in der Nacht in violettem Licht erstrahlt. Besucht man ihn bei Tag, erinnert der von Stacheldraht umgebene Phallus an einen maroden Bootsmast, zu dem kein Schiff mehr gehört. So wie der knarzende Vergnügungspark in seiner unmittelbaren Umgebung hat er seine besten Zeiten längst hinter sich und raunt nun leise seinem Ende entgegen.


IV.

Dem scheuen Flanieren verpflichtet, bewege ich mich fast ausschließlich zu Fuß durch die Stadt und nutze nur selten die U-Bahn, die, sich adäquat in die Geräuschkulisse von Tiflis einfügend, schauerlich tief unter die Erde führt und dabei ächzende Laute von sich gibt. Bei meinen ersten Erkundungen fühle ich mich dabei unerwartet verloren. Ich irre weniger routiniert durch die Gassen meiner Wohngegend als dies sonst, bei anderen mir zuvor unbekannten Orten, der Fall war. Der starke Kontrast der verdreckten Straßen, auf denen sich die Marktfrauen tummeln, um Obst und Gemüse zu verkaufen, zu den märchenhaften kaukasischen Holzbalkonen und den vielen persischen Ornamenten und Verzierungen an den Häuserfassaden, macht mich schwindeln. Warum aber verstört mich eben jene taumelnde Orientierungslosigkeit, nach der ich mich letztlich so gesehnt hatte? Das mag damit zusammenhängen, dass ich diese zunächst nicht zu benennen vermag und mir schlicht nicht erklären kann, woraus die sonderbaren Schwindelgefühle resultieren, die mich hier ergreifen. Aber kann ich das jetzt? Rückblickend schreibe ich es dem Mangel an Zeichen zu, der mir ein intuitives Verständnis der Stadt verwehrt hat. Ich war darauf vorbereitet, dass ich vor dem georgischen und russischen Alphabet kapitulieren, fragend vor den fremdsprachigen Hinweistafeln, Straßenschildern und Monitoren stehen würde, – nur: ich fand so gut wie keine vor. Auch Ampeln oder Fußgängerüberquerungen suchte ich bis zum Ende meines Aufenthalts vergebens.

Tiflis verlangt schon aus Gründen der Selbsterhaltung eine konstante, wache Aufmerksamkeit. Auf meinen ziellosen Spaziergängen und Fußmärschen durch die Stadt, die mich häufig über den nah gelegenen Freiheitsplatz und den weitläufigen Rustaweli Boulevard führen, halte ich oft inne, um den Straßenverkehr gewähren zu lassen. Kaum ein Auto geht vom Gas, nicht für Kinder, nicht für Alte. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren, das ich nur schwer mit meinen Erfahrungen im persönlichen Umgang mit Georgierinnen und Georgiern in Einklang bringen kann. Denn diese treten mir stets freundlich, oft auch etwas schüchtern gegenüber. Dass die Zurückhaltung im Miteinander vorrangig der Sprachbarriere geschuldet ist, lässt sich nicht bestreiten. Alltägliche Interaktionen bleiben oft wortkarg oder verlaufen gänzlich nonverbal. Wirkliche Gespräche führe ich vor allem mit den Jüngeren, die, der englischen Sprache mächtig, von Europa träumen, da sie in ihrer Heimat keine Perspektive für die Zukunft sehen. Man trifft sich in versteckten Hinterhof-Restaurants, die internationale Namen tragen, oder in einer der unzähligen Kellerkneipen, die – man ahnt es – ohne jeglichen Hinweis an der Tür oder Fassade gefunden werden müssen. Darin steht die Luft, weil man in Georgien noch immer in fast jedem Lokal rauchen darf, was dann auch ausgiebig beherzt wird. Das lokale Bier der Marke Argo ist günstig, schmeckt aber ebenso. Ich bestelle noch eins.


V.

Mein Flieger geht mitten in der Nacht. Gregori, den ich, den Abschied im Nacken, eigentlich erst in meinen letzten Tagen wirklich kennen gelernt habe, bringt mich in seinem Wagen zum Flughafen. Ein letztes Mal mit klammen Händen über den Kakheti Highway, diesmal in gemäßigtem Tempo. Zum Schluss also noch eine kleine Premiere. Die Straßen sind ruhig. Unsere Verabschiedung läuft emotionslos und dauert nur wenige Augenblicke. Im Gebäude geht dann alles ganz schnell. Die Zeit bis zum Abflug vertreibe ich mir im Raucherbereich, der riesig ist, im Grunde größer als der Rest der Wartezone. Allein die Vorstellung, dass mich das Rauchen beruhigen könnte, beruhigt mich. Ein paar Packungen Marlboro mit georgischen Warnhinweisen für 1,10 Euro das Stück ergeben ein paar hübsche Souvenirs. Keine einzige Zigarette wird verschenkt. Ein älterer Georgier setzt sich zu mir, weil auf meinem Tisch ein Aschenbecher steht, den ich zuvor geholt habe. Er wartet auf seinen Flieger nach Tel Aviv, wo er seinen Bruder oder Onkel besuchen wird. In gebrochenem Englisch halten wir Konversation, dann versucht er es auf Hebräisch. Ich bemühe mein kaum vorhandenes Ivrit, nur um festzustellen, dass das seine noch viel schlechter ist. Aber irgendwie verstehen wir uns ja doch.