Ein neues Konzertformat eignet sich eine Strecke an, die sonst nur der gelben Ring-Bim vorbehalten ist: Die Tram Sessions Vienna drehen zwei Runden um die Wiener Ringstraße, angetrieben von den musikalischen Motoren Clara Luzia & Norbert Wally (The Base) und dem Applaus des Publikums.
Es ist Donnerstag Abend im Oktober, wegen Regen und Kälte und Dunkelheit fühlt es sich aber eher an wie Januar Nacht. Zu dieser Jahreszeit mache ich nie Ausflüge in den Prater. Heute aber Ausnahme, weil ich eine ausgeprägte Leidenschaft für Aktionen in Straßenbahnen hege (#KinoimKopfspezial #Friedensbim). So stehen meine Begleitung und ich um 18:40 Uhr bei Endstation Prater Hauptallee und nehmen unsere Fahrkarten für die erste Fahrt der Tram Sessions entgegen: Stempel aufs Handgelenk. So weiß man auch am Tag danach, wo man gestern war.
Von der Konzerthalle in die 1er Bim
Die Fahrt wird vom Kulturverein »Fanie Musik« initiiert. Ein einfacher, visueller Impuls brachte die beiden Projektmanagerinnen Stefanie Summerauer und Anna Oberdorfer im März auf die Idee, akustische Konzerte in einer Bim zu organisieren - eine vorbeifahrende Straßenbahn mit einer Box, aus der Musik tönte. Summerauer, selbst Musikerin, möchte mit den Tram Sessions räumliche Hierarchien brechen: Trennt bei konventionellen Konzerten die Bühnenkante das Publikum von den KünstlerInnen, soll bei den Straßenbahnkonzerten ein Erlebnis auf Augenhöhe möglich werden. So holen die Tram Sessions KünstlerInnen aus den Konzerthallen und bringen sie, zusammen mit dem Publikum, auf Schiene.
Kurz vor Abfahrt wird der Regen stärker. Wir haben uns mit etwa 50 weiteren Fahrgästen unter der Überdachung der Haltestelle eingefunden, allesamt GewinnerInnen des Tram Sessions Gewinnspiels. Wie das funktioniert? Du nimmst online an der Fahrkartenverlosung teil, gewinnst und wirst so Teil des fahrenden Konzertes. Easy. So auch die Stimmung des durchwegs jungen Publikums, bevor die Tram Sessions Straßenbahn um die Kurve fährt und zum Einstieg bereit hält. Ein Geräuschteppich aus entspanntem Gelächter, Stimmenwirrwarr und dem Klicken von Spiegelreflexkameras umhüllt uns. An der kleinen Bar verteilt das Team Bier und Grüntee in Dosen gegen freie Spende, gespannte Aufregung liegt in der Luft.
Clara Luzia und Norbert Wally
Bei der Auswahl der MusikerInnen für die erste Tram Session wurde ein Statement gesetzt - österreichische, handgemachte Musik ohne Schnörkel. Clara Luzia, aus der österreichischen Singer-Songwriter Szene nie wieder wegzudenken und Norbert Wally, Sänger und Gitarrist der Band The Base, aktuell am Soundtrack von »Hotel Rock´n´Roll« zu hören, eröffnen die musikalische Jungfernfahrt der E2-Garnitur.
»Hallo, ich bin Norbert Wally. Zur Vorbereitung bin ich gestern in Graz einmal mit der Straßenbahn gefahren.« »Ich bin Clara Luzia und habe alleine in einem Keller im 15. Bezirk geprobt« Ob die beiden davor jemals im Duo gespielt haben, machen sie also zu ihrem Geheimnis.
The waving ones are us
Raus aus dem Prater. Clara Luzia am Zug, solo, E-Gitarre. Stop and Go durch die Radetzkystraße. Wo das Konzert beginnt, findet der Abendverkehr sein zähes Ende. Wie lange dauert diese Fahrt eigentlich? Gibt es einen Zeitplan, der eingehalten werden muss? Ich weiß es nicht und muss es auch gar nicht wissen. Ecke Hintere Zollamtstraße setzt das neue Fahrgefühl ein: Es geht nicht darum, wie gewohnt von A nach B zu kommen. Hier geht es um Musik, um Gefühle, um ein miteinander.
Wir schleifen in den Stubenring ein. Dass es regnet, fällt nun nicht mehr auf. Ich fühle mich wie im Kaminzimmer einer Altbauwohnung, Menschen schreiben »I <3 TRAM SESSIONS« an die beschlagenen Fenster. Große und kleine Kameras drängen in die ersten Reihen, Blitzlichtgewitter, Live-Übertragung bei Facebook. Na gut, Kaminzimmer mit Pressekonferenz. Stimme von links: »So viele Kameras hier und ich hab mich nicht frisiert.«
Opernring, Universitätsring, Schottenring und eine zweite Runde. Clara Luzia und Norbert Wally singen Solo, abwechselnd, Duo, Weltpremieren, Bekanntes wie »Sink like a stone«, »Here´s to Nemesis« »I bet it rains« und weniger Bekanntes, wir pfeifen, singen, summen mit. Nach ihrer gemeinsamen Performance von „Dirty little hole“ ist nur noch schwer vorstellbar, dass uns die beiden zu Beginn die ganze Wahrheit gesagt haben. Böse deswegen? Auf keinen Fall.
Das fahrende Konzert hält nur bei roten Ampeln in den Stationen. Wir drinnen, vergnügt und beschwingt und verschwitzt, winken nach draußen. Dort verdutzte Gesichter, lachende Gesichter und Menschen, die vergebens den Türöffner drücken. Ein Junge nimmt seine Kopfhörer ab und legt sein Ohr an die Straßenbahn. Wir halten vor dem Parlament. Wer von denen da drinnen hört wohl Clara Luzia? Die sollten alle mal ein bisschen Clara Luzia hören. Stimme von gegenüber: »Das ist ja noch besser, als ich es mir vorgestellt habe«
Regentaufe bestanden
Innerhalb weniger Monate hat »Fanie Musik« ein neues Konzertformat geboren. Die Faszination und Leidenschaft, den öffentlichen Raum der eigenen Stadt mit zu gestalten und gleichzeitig österreichischen MusikerInnen eine außergewöhnliche Plattform zu bieten, ermöglichte einen reibungslosen Ablauf und dem Publikum das Gefühl, als hätte das Team um Summerauer und Oberdorfer noch nie etwas anderes gemacht.
Der Stempel am Handgelenk ist mittlerweile verschwunden, die Vorfreude auf die nächste Tram Session im Dezember aber bleibt.