Pause von sich selbst…

 

von Mirela Jasic

 

Who are you?


Eine kurze, simple Frage, die mir wie ein kläffender Chihuahua am Hosenbein hing. Eine einfache Frage, die nach einer einfachen Antwort suchte, um das Gegenüber in eine Schublade zu stecken. In diesem Fall war ich es, die in die Schublade sollte. »Who are you?«, war für mich, eine damals Mittzwanziger-Studentin, die aus Abenteuerlust von Wien nach New York City gezogen war, unausweichlich mit der Form, der Art und Weise, wie mein restlicher Verbleib in der Stadt sich gestalten würde, verbunden. Wie wird sich meine Geschichte entwickeln: Werde ich einsam und briefeschreibend in Coffee Shops mein Geld verpulvern oder im aufregenden Gewimmel dieser bunten Stadt meinen Platz finden?

In einer Stadt wie New York, wo sich 8,4 Millionen Menschen auf einer kleinen Insel zusammenfinden, gehört der souveräne Umgang mit dieser Frage zur städtischen Überlebensstrategie. Ich brauchte eine Antwort, die mich erkennbar machen sollte. Jeder wusste: Zeit ist Geld und für lange Gespräche gab es keine Zeit. Wir waren ja nicht alle ohne Grund hier. Meine erste Antwort fiel very un-new-yorkish aus: »I’m a student from Austria, born and raised in Bosnia. I study law at Columbia University and work as an actor in a theatre clown group.« Spätestens bei »born and raised in Bosnia« war mein Gegenüber ausgestiegen. So ausgestiegen, dass ich es wie in einer Filmszene beobachten konnte: Während ich Teile meiner Vergangenheit einem Fremden um die Ohren schmeiße, steigt dieser bereits mitten im Gespräch aus, wechselt auf die gegenüberliegende Straßenseite, klettert in eine Rakete und ich sehe ihn nie wieder. Als ich einen »echten« New Yorker fragte, was ich denn auf diese Frage antworten solle, klärte er mich very much new-yorkish auf: »Sweetie, this is New York, you can be whoever you want to be.« Ich nahm ihn beim Wort und wurde mit Ansage alles, was ich sein wollte: Ich war eine Rennfahrerin, eine Regisseurin, manchmal eine Schauspielerin. Selten auch einfach eine Jazz-Musikerin. Mal war ich »nur« die angehende Juristin aus Österreich, dann wieder ausschließlich Bosnierin. Ich begann damit zu spielen und entdeckte in diesem Spiel eine ungeahnte Freiheit. Die Freiheit, mir eine selbstbestimmte und geisterfüllte Pause von mir selbst zu nehmen, um mich auszuprobieren und mich zu erforschen. Eine Pause, als Raum zwischen dem Ich und dem Du – für die Metamorphose gedacht. Ein Pausen-Raum, den ich betrat, um mit neuen Ideen, Kraft und Inspiration zu mir selbst zurückzukommen. Gab ich mich diesem Gedanken hin, dann führte mich der Weg zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass für eine persönliche Entwicklung, der fruchtbare Boden nur durch Pausen von mir selbst wachsen kann.

 

Pause von sich selbst – wie geht das?


Es gibt einen Begriff aus der Psychologie, der Selbstkonzept genannt wird. Es beinhaltet alles, was der Mensch über sich weiß und was ihn mit all seinen Eigenschaften, Vorlieben und Fähigkeiten ausmacht. Dieses Selbstkonzept setzt sich aus der persönlichen und sozialen Kognition zusammen. Es ist der Name oder die Herkunft, die Augenfarbe, die Ausbildung oder der Beruf, aber auch Werte und Weltanschauungen, die allesamt Eckpunkte sind, über die sich eine Person definiert; oder es zumindest versucht, um sich von anderen zu unterscheiden. Wer diese Merkmale als Saiten eines Musikinstruments zu sehen lernt, entdeckt, dass in der Varianz ihres Bespielens immer neue Melodien entstehen können. Das eigene Selbst wird in einem neuen Klang vereint. Das Selbst als ein Instrument mit vielen Tönen. Noch besser beschreibt es womöglich das Selbstbild als ein Synonym für Selbstkonzept: eine Vorstellung von sich selbst, die wie ein Theaterstück aus einem Bühnenbild, aus Lichteinstellungen, Requisiten und Musik zusammengesetzt ist. Entflieht man dieser Szene, um sie selbst zu sehen, sie neu zu gestalten oder etwas anderes im Szenenbild auszuprobieren, dann ist genau dieser Austritt aus der Vorstellung, als Pause von sich selbst zu betrachten. 

 

Meine Pause ist nicht deine Pause.


Meine New Yorker Methode der Pause muss nicht deine Strategie sein. M., eine Bekannte, hat in LARP (Live-Action-Role-Playing) ihren eigenen Weg zur Auszeit von sich selbst gefunden. Im Vergleich zu meiner Geschichte ist es wohl die raffiniertere Variante, sich selbst eine andere Geschichte spielen zu lassen. Im geschlossenen Rahmen stürzen sich die Spieler in das Abenteuer, in dem das Ich zur Figur einer erfundenen Geschichte wird. Den Spielern steht es frei, ihren Charakter eigenständig zu formen und ihm innerhalb der freien Improvisation eine Persönlichkeit zu verleihen, um damit die gesamte Geschichte zu lenken. Seit bereits sieben Jahren taucht M. regelmäßig in neue Spiel-Welten ab. Sie gestaltet ihre Kostüme selbst und fängt bereits in diesem Stadium an ihrer Geschichte zu basteln an, der Beginn ihrer Pause von sich selbst.

M. behauptet von sich selbst, schüchtern zu sein, in ihrem Alltags-Ich. In der Realität des Spiels führt sie Männerhorden gegen andere Heere in den Kampf. Früher waren das Erfahrungen, die sie an ihre eigenen physischen und psychischen Grenzen führten. Im Verlauf der Zeit erkannte sie aber, dass diese Grenzen aufgebrochen werden können. Der Moment, in dem dem eigenen Charakter Farbe gegeben werden kann, ist der entscheidendste. Hier wird bestimmt, ob sie sich dem Spiel und dadurch der Geschichte öffnet, ob sie Aufmerksamkeit und Anteilnahme erzeugen kann, und damit zu ihrer Figur werden kann, oder eben nicht. Ab diesem Moment ist M. nicht mehr Zuschauerin, sondern ihre Rolle.

 

4′33″- Pause als Protest.


In meiner Zeit in New York pausierte ich von meinem Ich in Wien. New Yorks Menschengewusel ließ mich seinen Rhythmus spüren und mich in ihm treiben. Die Geräuschkulisse der Stadt lag wie eine Decke über uns allen, die wir uns in ihr bewegten, und in ihr lernte ich, die Stille zu schätzen. So sehr zu schätzen, wie eine zarte Blume, die man nur ganz selten zu finden vermag und die sich einem in seltenen Momenten öffnet. In einer Stadt, in der jeder und alles laut ist, nimmt die Stille eine Protest-Position ein. Wer nicht laut ist, der ist dagegen. John Cages berühmte Komposition 4‘33‘‘ ist ein Paradebeispiel für Stille als Protest. Bei ihrer Erstaufführung war sie ein Skandal. Die gesamte Performance besteht lediglich aus dem Öffnen und Schließen des Klaviers und der daraus entstehenden, getakteten Stille. Es war wohl nicht die Entdeckung der Stille als dramaturgisches Element, die den Skandal ausmachte, aber es trieb diesen auf die Spitze. Das gesamte Konzert wurde als Provokation interpretiert, obwohl doch die Aussage des Stücks nicht in einer solchen aufgehen sollte. Vielmehr sollte das Nichts einen Raum bekommen, indem Cage die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf jene Geräusche und Klänge lenkte, die aus der Stille entspringen. Alles, was während des Konzerts passierte und zu hören war, sollte Teil des Stücks werden. Es war also nicht Cages Musik, sondern die Zuhörer selbst, die die Provokation waren, was ihnen aber unentdeckt blieb.

Welche Macht in der Stille liegt, ist aber nicht erst seit dem amerikanischen Komponisten bekannt, der ihr eine Bühne verschaffte. Sowohl in christlichen als auch buddhistischen Traditionen wird die Stille als methodische Übung genutzt, um dem eigenen Verstand und den Gedanken Klarheit zu verschaffen. Bewegt sich der Mensch im Spannungsfeld zwischen beruflichen und persönlichen Herausforderungen und übernimmt der Lärm der Großstadt den Takt seines Lebensrhythmus’, kann er in der Stille- oder Ruhemeditation von all den Bausteinen seines Daseins einen Raum finden, in dem er entdeckt, was passiert, wenn alles wegfällt, woran er sich klammert: Beruf, Gespräche, Internet, Handy, Geld. Mein Freund S. geht jährlich für eine Schweigewoche in ein katholisches Kloster. Dort nimmt er sich eine Auszeit und taucht in ein anderes Leben ein. Im Kloster und in der Stille findet er die Einsamkeit, die er als Pause erkennt. Eine Pause von sich selbst und von den anderen. Er schenke sich dort Energie, so S.

 

Leistungsgesellschaft vs. Image-Gesellschaft.


Denken wir an die letzten 100 Jahre zurück, dann ist die Geschwindigkeit, in der sich die Industrialisierung und Digitalisierung entwickelt hat, »unvorstellbar« schnell abgelaufen, denn wir haben ja mit ihr gelebt. Sie hat sich uns vorgestellt, wir sie aber nicht erkannt. Arbeitsabläufe wurden getaktet, Leistungssteigerung stand im Mittelpunkt, Profit wurde zum neuen Schlagwort. Obwohl die lärmende Schwerindustrie zurückging und ihr Lärm gedämpft wurde, ist unsere Welt eine lautere geworden. Dennoch oder vielleicht deshalb erkannte die Industrie in der Pause ihre Qualitäten. Der amerikanische Ingenieur Frederick Taylor machte darauf aufmerksam, dass sich die Produktionsleistung der Arbeiter durch rechtzeitige Pausen vervielfachen lässt. Die Gesellschaft entwickelte sich zur Leistungsgesellschaft, die jedoch still und heimlich einen Wechsel erfuhr. Ein lauter Abschied war der Leistungsgesellschaft nicht gegönnt. Im Jetzt, mit dem Höhepunkt der digitalen Technologie, die unser Alltagsbewusstsein so stark geprägt hat wie keine andere Entwicklung zuvor, sollte die Image-Gesellschaft ihren Platz einnehmen. Eine neue Gesellschaft geleitet von der Erschaffung einer Vorstellung von sich selbst in den Köpfen anderer. Die maßlose Informationsflut mit der wir täglich konfrontiert sind, lässt uns Ferne als nah und Nähe als Ferne erleben. Soziale Netzwerke haben sich zum Knotenpunkt der menschlichen Kommunikation entwickelt. Ganze psychologische Forschungsgebiete befassen sich mit den persönlichen und gesellschaftlichen Folgen, die mit der Veränderung unserer Kommunikation und Selbstdarstellung einhergehen. Eine Antwort gibt es natürlich nicht. Erst unsere Nachkommen werden feststellen können, was aus uns geworden ist.

 

Gib mir ein Like, Baby!


Meine eigene digitale Geschichte, meine Facebook-Geschichte, fing ebenfalls an, als ich in New York lebte. Zu diesem Zeitpunkt war Facebook vier Jahre alt. Für mich war es im Ausland die einfachste und günstigste Form, um mit meinen Freunden und Bekannten auf der ganzen Welt in Kontakt zu bleiben. Nicht lang sollte es dauern, dass der Auftritt auf Facebook, Instagram oder YouTube nicht nur unsere Kommunikation, unser Vergnügen, sondern auch unser Selbstbild bestimmen sollte. Die Frage wer ich bin, ist mit der Selbstdarstellung in sozialen Medien zu beantworten. Das Vergnügen wurde zur Aufgabe. Mehrere Berufszweige sind daraus entstanden: Blogger, Social Media Manager, Vlogger u.v.m. Begriffe wie »Image-Management« und »Identity-Management« können über eigene Tools gesteuert werden. Verzerrte Fremdbilder klaffen mit dem realen Selbstbild auseinander und überlagern sich wieder in Form von inszenierten Bildern in sozialen Netzwerken wie zum Beispiel Facebook und Instagram. Die Wahrheit ist heute nicht mehr in den Grenzen von Fotorahmen zu finden, sondern kann nur noch hinter ihnen vermutet werden. Was verrät der abgebildete einsame Strand nicht?

Anhand des Beispiels der australischen Beauty-Bloggerin Essena O'Neill zeigt sich, zu welchen psychischen Belastungen die vermeintlich perfekte Selbstdarstellung führen kann. Eine halbe Million Menschen folgten ihr und ihrem aufregenden Leben in diversen sozialen Netzwerken. So lange, bis sie im Jahr 2016 den Großteil ihrer Bilder löschte und vor ihrer gesamten Community und darüber hinaus zugab: »Das ist alles fake!« Ein Nervenzusammenbruch vor der ganzen (digitalen) Welt. Essena O’Neill ist aber nur eines von vielen Beispielen, die unser Dilemma aufzeigen. Wir posten, was wir tun, was wir essen, wen wir treffen. Die Belohnung dafür ist ein Like von unbekannten Usern. Das eigene Selbst wird dabei durch das digitale Ich überlagert. Mit jedem Like, mit jedem Bild, das wir posten, und mit jedem Video, das wir teilen, wird ein Tracking-Cookie auf unsere Vorlieben aufmerksam und leitet die Information an das jeweilige soziale Netzwerk weiter. Die Daten werden gespeichert und unser ganzes Ich, das gesamte Verhalten und alles, was damit einhergeht, wird bewertet, vermessen und verkauft.

 

Bitte alle aussteigen.


LARP oder eine fremde Stadt sind Möglichkeiten, um unserem realen Ich eine Pause zu verschaffen, aber gibt es eine Methode, um sich eine Pause von seinem digitalen Ich zu nehmen? Es kann der Ausstieg sein. Der Ausstieg aus dem Internet, der Ausstieg aus den sozialen Medien, der Ausstieg aus dem digitalen Zug, der niemals nirgendwo ankommen wird. Zurück zur Natur und zum Ursprung? Nicht, dass es eine solche Bewegung nicht gäbe, aber wollen wir realistisch sein: Der Trend zum Ausstieg hat sich noch nicht in der großen Masse gefunden. Aussteigen ist nicht trendy und kann nicht beworben werden. Damit ist kein Geld zu verdienen.

Im Alltag eines Menschen des 21. Jahrhunderts ist der tägliche Einstieg in das World Wide Web so gut wie unvermeidlich. Eine Vielzahl an Studien belegt, dass die Tendenz der Userzahlen in OnlineNetzwerken steigend ist und wir als Markt also weiterhin wachsen. Ein Ausstieg vom digitalen Ich kann sich nur in der Form ausdrücken, dass er zu einer neuen selbstbestimmten Interaktion mit dem Internet und dem eigenen Verhalten in sozialen Medien führt. Wer Medienverantwortung lernt und Kompetenz im Umgang damit entwickelt, erlangt wieder Kontrolle über sein User-Verhalten und entdeckt, dass die digitale Welt nicht vollkommen gemieden werden muss, um sich von ihr auszuruhen. Eine Pause für das digitale Ich ist auch anders möglich: Es genügt, sich der Möglichkeit und Notwendigkeit bewusst zu werden und in einem differenzierten Umgang Freiheit zu finden.

Lassen wir uns nicht durch die Community lenken, sondern gestalten wir unser digitales Ich bewusst selbst und selbstbestimmt. Nur so können wir die Pause der individuellen Würde des Menschen und der Toleranz beenden, um Platz für die Pause des eigenen Ichs zu schaffen.