Die Leute haben es immer getrieben


Interview mit Matti Bunzl von Maximilian Brustbauer


Der Hintereingang des Wien Museums. Der Fotograf und der Reporter. Szenario: Unter dem Baustellengerüst steht der Aschenbecher, der Blick geht auf den Rücken der Französischen Botschaft und auf einem Auto liegt ein blauer Blazer. Ist das jetzt schon Kunst? 

 

Beim Pförtner muss gewartet werden. Ein Besucherausweis muss nicht sichtbar getragen werden, »nur damit ich nicht vergesse, dass sie da sind, wenn ich zusperr’.« Beruhigt warten wir darauf, abgeholt zu werden. Über ein enges Stiegenhaus geht es in den ersten Stock. Vorbei an der roten Hamzabeg-Fahne, dann über einen grünen Teppich. Oswald Haerdtl kann da keine visionären Gedanken gehabt haben, was diese Farbkombination im Wien von 2016 bedeutet. Lustig ist es trotzdem. Hier, im Bürotrakt ist es überraschend hell und ruhig, trotz all der offenen Bürotüren. Wir warten wieder und können wieder schauen. Plakate von vergangenen Ausstellungen an den Wänden. Bücherregale. Große Gemeinschaftsküche. Durchdacht geplant das Haus. 

Matti Bunzl holt uns in sein Büro. Kaltes oder normales Wasser? Er trinkt nur kaltes. Süßigkeiten stehen auf dem Tisch. Sein Arbeitstisch ist, gelinde gesagt, aufgeräumt. Ein Laptop, eine Maus, drei Kabel, fertig. Mehr ist da nicht, mehr braucht er nicht. Kennenlernen. »Die Bilder sind aus dem Archiv und der Kleiderständer von der Aida.« Angenehmes Plaudern, aber nur noch 47 Minuten Zeit für das Interview. 


Was bedeutet Sex, so generell?


Also, Sex ist einer der faszinierendsten Aspekte des menschlichen Lebens, Nahrungsaufnahme ist ein anderer, nur zum Vergleich. Beide vereinen das Biologische und das Kulturelle vollkommen. Sex hat als biologische Sicht die Aufgabe der Reproduktion, aber das ist nur die Grundausstattung. Die Form, die Sex hat, und seine Bedeutung, das ist kulturell und historisch begründet. Beim Essen ist es das Gleiche. Man kann nicht ohne, aber was man isst und wie, das ist kulturell konstruiert. 


Und was bedeutet Sex für Sie?


Für mich ist Sex die radikalste Form von Intimität.

 Bunzl sitzt ruhig in seinem Stuhl, der Reporter vis á vis. Wir wissen, um welches Thema es geht. Im Haus gibt es eine Ausstellung über Sex und Wien. Besser gleich jetzt blöd kommen. 


Ist Sex heutzutage nicht schon viel zu uninteressant? 


Naja, guter Sex vielleicht nicht, aber es kommt darauf an, wie man Sex definiert. Selbst wenn er, sagen wir einmal, konventionell abläuft, bedeutet es noch lange nicht, dass er uninteressant ist. Ich bin ja Historiker und Anthropologe mit Fokussierung auf Sex. Durch die Digitalisierung passiert da gerade sehr viel, Sex expandiert quasi und ist im Wandel begriffen. Erst durch die digitale Welt finden sich Menschen als Community, in Gruppen und Untergruppen. Das ist nicht nur nicht uninteressant, sondern welthistorisch völlig neu. 

Das hat er gut gemacht, gut pariert, souverän. Das geht so nicht. Dann halt anders. Gleich jetzt die Reservefragen auspacken.


Wann das erste Mal an Sex gedacht?

Schwer zu sagen, wirklich schwer … (denkt lange nach, mit einem feinen, fast unsichtbaren Lächeln) Was mir bewusster ist, war, wann mir klar wurde, dass ich schwul bin, und das war mit 13 oder 12.


Wann das erste Mal über Sex gesprochen?


Sicher schon davor. Da muss man dazu sagen, dass ich der Sohn einer Gynäkologin bin, die Auswirkungen von Sex waren mir schon als Kleinkind bewusst.


Wann das erste Mal geküsst?


Naja, wirklich erst wahrscheinlich mit 18.


Wann das erste Mal Sex gehabt?


Auch mit 18.


Wann das erste Mal Sex bereut?


Ich bin mir nicht sicher, ob ich das je bereut habe. 

Gedankennotiz: Matti Bunzl hat keine Scheu über Sex zu sprechen, auch nicht über seinen eigenen. Nachdenken, wie das weitergehen soll und einstweilen den Fragenkatalog ohne erkennbaren Sinn durchmischen.


Sex in der Stadt, das Thema der aktuellen Ausstellung, Sex in einem Museum also, gehört er dort hin?


Mit Foucault gesprochen: Sexualität ist ein Prisma für die verschiedensten Strukturen von Macht und kulturellerer Determination und wenn wir das ernst nehmen, ist die Geschichte des Sex und der Sexualität ein Schlüssel, um die moderne Stadt zu verstehen. 

In der Ausstellung geht es darum, dass moderne Sexualität erst durch den urbanen Raum möglich wurde. Die Leute haben es immer getrieben, aber erst im 19. Jahrhundert beginnen sie sich in den bürgerlichen Disziplinierungsverfahren zu entdecken. 1869 wurde zum ersten Mal der Begriff Homosexualität verwendet. Aufgrund dieser neuen Klassifikationen haben sich Menschen in diesen Identitäten wieder gefunden und wurden sich deren überhaupt bewusst. Und das ist eben erst durch den urbanen Kontext möglich geworden, weil sie sich dort finden konnten. 

Durch die Digitalisierung ist es wieder so, nur noch viel kleinteiliger, weil homo, hetero, bi nicht mehr ausreichen. Es gibt ja Leute, die auf Füße oder Objekte stehen, und alle diese Fetische haben Communities und die haben sich über die digitale Welt gefunden und dieser Prozess der Modernisierung der Sexualität ist ein urbaner. Und den zeichnen wir nach. 


Hat Wien genug Sex oder war es in den 1980ern nicht doch besser?


Ich kenne mich bei den Heteros nicht aus, sondern nur bei Schwulen. Ich bin 1971 geboren und mein sexuelles Erwachen war in den 80ern. Für mich erschien die damalige Situation sehr repressiv. Die schwule Szene war nur in Lokalen mit Klingeln, Aids verbreitete sich und so weiter. Es war sehr unterdrückend. Um Sex zu haben, gab es zwar immer Möglichkeiten, aber es war mühsam und schwierig. Heute gibt es Grindr (Anm. d. Red.: eine Dating App). Man kann Sex also heute definitiv leichter finden. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht sagen, aber es ist eine historische Wandlung. 

Wir wollen jetzt etwas mehr über die Person Matti Bunzl erfahren. 24 Jahre hat er in den USA gelebt. Österreichische Allerweltsthemen. 


Neusiedler See oder Côte d’Azur im Urlaub?


Absolut weder noch. Ich mache Urlaub nur in Städten.


Zuhause kochen oder im Restaurant essen?


Im Restaurant.


Bargeld oder Bankomatkarte beim Billa?


Beides.


Opernball oder Life Ball fürs Feiern?


Ich bin kein Partymensch.

Solche Fragen gefallen, könnte er noch Stunden machen. Zur Souveränität beim Thema kommt jetzt auch die Entspannung beim Interview dazu. Er soll jetzt einmal reden. 


Oscar Wilde hat einmal gesagt: »Everything in the world is about sex except sex. Sex is about power.« Was ist damit gemeint?

(Lautes Lachen.) Naja, das kann man biographisch lesen. Ich glaube, er hat aber unrecht. Was er damit jedoch meint, ist, dass Sex im viktorianischen Kontext immer auch die Funktion hatte, die massiven Ungleichheiten darzustellen. Es gibt da übrigens eine wunderbare Darstellung dessen in der österreichischen Literatur – Der Reigen, von Arthur Schnitzler. 


Wenn Sie an Ihre Zeit in den USA zurückdenken, anders als in Wien?


Die Selbstverständlichkeit, die Homosexuelle in europäischen Städten leben, die war zuerst in den USA. San Francisco, New York, Chicago. Ich bin 1990 in die USA, 1993 dann nach Chicago. 1993 hat sich Wien erst begonnen zu öffnen, aber eigentlich war es noch die geschlossene Szene der 80er. Im Gegensatz dazu war in den USA alles offen. Dort gab es öffentliche schwule Bars, die waren gekennzeichnet, also haben sich nicht getarnt, sondern offen gezeigt, dass sie eine Schwulenbar sind. Das war alles selbstverständlich, große Fenster und Partys auf den Straßen. Das wurde gelebt. Aber in Wien, da war nix, außer der Rosa Lila Villa. 1993 gab es dann das Cafe Berg, das sich öffentlich deklarierte und auch kommerziell orientiert auftrat und die Frage war: Setzt sich wer in die Auslage eines Schwulenlokals? Zum Glück, ja.


Trotz allem bleibt Sex ein Tabuthema. Was wird da versucht, unterdrückt zu werden?


Als Historiker sehe ich, mit welcher Indirektheit früher über Sex gesprochen wurde, im Vergleich dazu ist es heute ja quasi selbstverständlich. Erstaunlich aber ist nicht, dass es noch Tabus gibt,  sondern wie wenige es gibt. Das hängt mit der Digitalisierung zusammen. Ich denke immer über Alltagserfahrungen nach. Nehmen wir die Pornographie. Als ich in den 80ern groß wurde, waren Pornos nicht greifbar. Ich sage das jetzt wieder ohne Wertung, aber heute kann jeder Teenager alles ansehen, was er oder sie will. Den Vorwurf der Verrohung oder Desensibilisierung kann ich jetzt nicht beurteilen. Was klar ist, der Diskurs und das Wissen über Sex ist offener und einfacher geworden, in nur einer Generation! Unfassbar, wenn ich mich an meine eigene Jugend erinnere, wie Tag und Nacht.

Wo man es noch konkreter sehen kann, ist der Grad der Selbstpathologisierung. Das klassische Comingout war: ich stehe auf Männer, ich bin der Einzige und das ist eine Katastrophe. Weiter klassisch war dann: Therapie oder sonst was. Heute kommt doch keiner mehr auf diese Idee.


Schöne Gedanken sind schön und über sie reden ist es auch, aber so schön ist die Welt leider im Großen nicht, wie sie im Kleinen erscheinen mag. Wir wollen wieder in eine andere Richtung. Zurück zur Welt da draußen, zurück zur Unterdrückung. 


Karl Kraus hat einmal gesagt: »Die schlecht verdrängte Sexualität hat manchen Haushalt verwirrt; die gut verdrängte aber die Weltordnung.« Steht es um die Welt gerade schlecht?


Um die Welt steht es natürlich schlecht. Vielleicht hat das mit Sex zu tun. Es gibt ja Spekulationen, dass der Versuch der Repression von Sex Gewalt hervorbringt. In den USA etwa, vor allem im christlich-fundamentalistischen Bereich, da ist es möglich, dass es zu zu symbolischer und realer Gewalt kommt. Der Zusammenhang ist leider plausibel.

Die nächste Frage wird er nicht gern hören. Sie ist eine Nichtfrage, ohne Sinn. Aber wir wollen ja ehrlich wissen, wieso es eine Ausstellung gibt. Ein Schluck Wasser, Luftholen und los.


Ist das also der Grund, weshalb Sex ins Museum gehört?


Nein, die Frage hat er nicht gern gehört. Mal schauen, was passiert. Ebenfalls ein Schluck Wasser, tiefes Luftholen und los. 

(piano) Sex gehört ins Museum, weil Wien eine der Welthauptstädte der Sexualität ist. (die Hände liegen auf der Tischplatte) Es ist ja nicht zufällig, dass Freud hier seine Theorien entwickelt hat.  (mezzopiano und die Hände erheben sich leicht schwingend) Wien war da Avantgarde, nicht nur immer im Künstlerischen oder Musikalischen. (mezzoforte) Deshalb ist es wichtig, das nachvollziehen zu können. (mit beiden Armen dirigiert er jetzt seine Argumente und die Handflächen schließen sich und nur der rechte Zeigefinger bleibt gestreckt) Wir sind ein kulturhistorisches Museum. (forte) Natürlich gehört Sex hierher. (der Zeigefinger stößt triumphierend in die Luft und fortissimo) Sex ist Kultur! 

Bravo, wir sind überwältigt, eine großartige Nummer. Applaus, nicht wirklich, aber gefühlt. Apropos:


Elton John oder Billy Joel?


Elton John. 

 

Füllfeder oder Kugelschreiber?


Kugelschreiber.


Lange oder kurze Hose im Sommer?


Privat kurz. (langes Lachen)


Starbucks oder Aida?


Aida. (sehr langes, lautes Lachen) 

Was jetzt gleich kommt, hat es noch nicht gegeben. Wir haben recherchiert, nicht lange, aber ausreichend. Wir sind in Europa die Ersten, die Dickpic in einem Interview sagen. #Duwirstnichtglaubenwasdannpassiertist


Dickpic, Sexting, Cybersex. Verändert die Digitalisierung auch unseren Sex?


Ja, aber das hatten wir ja schon als riesengroßes Thema mit allem, was dazugehört, aber nicht so sehr die Dickpics, sondern das Selbstgewahrwerden der vielen, vielen Ausdrucksformen, Identitäten und Praktiken. Dickpics sind ja nur eine neue Form von Porno und das ist ja nicht neu. 

Ach, Matti Bunzl ist souverän, nicht mal ein Grinsen ist ihm ausgekommen. 


Gibt es heute noch Grenzen, die Sex beschränken?


Natürlich, klar, alle, die es gibt, rechtliche, das Alter, Gewalt, Mündigkeit und das muss auch so sein. 


War früher nicht doch alles besser?


Nein! Überhaupt nicht. 


Mit der Ausstellung zeigt das Wien Museum eine über hundertjährige Geschichte der Sexualität Wiens. Können Sie da die Entwicklung in einem Satz zusammenfassen?


Früher war alles nicht besser. 

Das hat ihm jetzt gefallen. Der Spruch, das Statement. Das hat gesessen, das geht an all die Kulturpessismisten da draußen. Aber jetzt wollen wir noch einmal kurz die Person befragen. Eine letzte Runde Entweder-oder.


Mitglied im Mile High Club?


(Lachen) Nicht wirklich. 


Schon mal Sex in einem Museum gehabt?


Nein.


Würden Sie gerne in einer anderen Epoche leben?


Äh, naja, ich hatte die Phantasie im Wien der Jahrhundertwende zu leben. Nie so als statt jetzt, aber zusätzlich, das wär schon toll.


Was wollten Sie eigentlich als Kind werden?


Kulturjournalist.

Jetzt lacht der ganze Raum und auch ein wenig auch der vor der Tür, weil die steht noch immer offen und dort arbeitet das Sekretariat mit der Laufkundschaft. Interview vor Publikum mit dem so unprätentiösen Museumsdirektor. Deshalb soll jetzt zum Abschluss nochmal etwas Großes her, die Moral.


Was interessiert es manche Leute, was die Menschen in ihren Betten oder wo auch immer machen?


Sex ist tief mit politischen Fragen, die über die Visionen der Zukunft entscheiden, verwoben. Sex und Frau etwa ist eine Chiffre des handelnden Individuums. Für Menschen, die eine normative Struktur bevorzugen, ist der weibliche Körper der Testcase, um zu reglementieren. Deshalb ist die Politik des Körpers ja wichtig und die Freiräume müssen verteidigt werden.


Religion, Kultur, Politik. Steht Sex für Freiheit?


Eigentlich sollte er es nicht, aber Sex steht deshalb für Freiheit, weil die Freiheit von Sex von so vielen bekämpft wird. Wenn man es aus der biologischen Perspektive betrachtet, tut er es nicht, bei Tieren etwa. Bei uns Menschen tut es deshalb, weil er historisch, politisch, kulturell so konnotiert wurde.


Schaffen wir irgendwann eine erfolgreiche sexuelle Revolution? Verschwinden irgendwann die Tabus?


Ich glaube nicht, dass das das Ideal sein sollte. Nein, es sollen Tabus bleiben, Sex mit Kindern kann ja nicht unser Ziel sein. Unser Ziel sollte sein, dass wir entspannt über Sex reden können, ihn gleichzeitig nicht maßlos überhöhen, sondern als normal betrachten. Ich komme wieder mit dem Essen. Wir müssen essen, wir müssen Sex haben. Was schmeckt, darf gegessen werden. Weil dem aber nicht so ist, macht das Sex wieder spannend. Wir würden sonst nicht darüber reden. Und deshalb hat unsere Ausstellung auch drei Untertitel: Lust, Kontrolle, Ungehorsam – weil die Leute tun es trotzdem.

teaser: 


Der Sex ist ... ja, was eigentlich? Ein Tabu, eine Obsession, eine Unaussprechlichkeit? Nein. Sex ist Privatsache und Öffentlichkeit, beides zugleich, aber nicht immer gleichzeitig. Sex kann die Ehe retten, aber auch die Welt zerstören. Sex ist wie Gott, war immer und wird immer sein, wenn wir schon nicht mehr sind.