Erotik der Gegenwelt. Das Junge Wien im Prater

 

 

»Einfach, wie nirgendwo sonst, enthüllen sich hier die einfachen menschlichen Triebe. Die Lust des Weibes am Manne. Die Lust des Mannes am Weibe … Unschuld gibt es hier nicht, wenigstens nicht in unserem Sinne, nicht im gesellschaftlichen Sittlichkeitsbegriff.« Das schreibt Felix Salten in seinem 1911 veröffentlichen Wurstelprater. Jener Autor, der mit seinem von Walt Disney verfilmten Kinderbuch Bambi auch außerhalb Österreichs weltbekannt ist. Salten gilt als heißester Anwärter auf die Autorschaft des pornographischen Romans Josefine Mutzenbacher, er soll auch eine erotische Nacherzählung Grimm’scher Märchen hinterlassen haben. In seinem Wurstelprater entwirft er den Rummelplatz mit seinen charakteristischen Menschentypen kaleidoskopartig als Ort exotischer und erotischer Reize.

 

Die Sinnes- und Schaulustigen des Wurstelpraters mit seinen plebejischen Vergnügungsmöglichkeiten verkehrten Tür an Tür mit der High Society, die sich aristokratisch-abgeschieden entlang der Hauptallee tummelte, im Nobelprater also, wo es Erotik vor allem in sublimierter Form gab. Und in den Gebüschen entlang der Hauptallee wird, wie an keinem anderen Ort in Wien um 1900, Outdoor-Sex betrieben.

Das war nicht immer so. Die Auenlandschaft, in einer 1162 von Friedrich Barbarossa ausgestellten Urkunde als »Pratum« (Wiese) erstmals erwähnt, diente lange Zeit als Jagdgebiet nur für die Privilegierten. Joseph II. lockerte nicht nur die restriktiven Sittengesetze seiner Mutter Maria Theresia, sondern machte 1766 auch den Prater öffentlich zugänglich, und so entstand hier sehr bald schon ein Ausflugs- und Vergnügungspark für das Volk. Gejagt wurde bald vor allem das weibliche Geschlecht, und das nicht nur mehr untertags, sondern auch abends.

Auch die Literaten des Jungen Wien trieb es hierher. Jene Gruppe um Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann und Hermann Bahr, die um die Jahrhundertwende die literarische Szene in Wien ziemlich aufwirbelten. Wie die Gruppe am Sonntagnachmittag ihre Zeit im Prater verdingt hat, zeigt etwa ein Brief Arthur Schnitzlers an die exzentrische Schauspielerin Adele Sandrock, sie war für gut zwei Jahre seine Geliebte: »Gestern, mein Schatz, waren wir im Prater (wir vier: ICH, Loris [Hofmannsthal] – Salten – BeerHofmann) – haben wahnsinnig gedraht, sind nemlich im Schweizerhaus gesessen, haben Backhendeln mit Gurkensalat u Salami gegessen, und sind dann – bitte nicht verhöhnen! – auf der Rutschbahn gefahren, dabei ereignete sich auch nicht das geringste Stubenmädchen, und alle Backen blieben ungekniffen.« Der Ton des Briefes deutet darauf, dass seine Zurückhaltung den Stubenmädchen gegenüber – vorsichtig gesagt – auch Ausnahmen kannte. Bis zum Po-Grabsch-Paragraphen mussten jedenfalls noch knapp hundert Jahre vergehen. Verdächtig umständlich umschrieben ist im Brief an die Sandrock auch der anschließende Besuch der Zehnkreuzerbude, »wo eine berückend schöne Donaunixe, die ausschließlich mit einem Verdienstkreuz bekleidet war, unglaubliche Evolutionen ausführte.«

Szenenwechsel: »Abend 6 Uhr erwartete ich romantisch in einer Vorstadtgasse im Fiaker sitzend – Adele – Sie kommt ‚verschleiert‘ – wir fahren in den Prater. Hintre Alleen, Dämmerung, dann Mondschein. Wahnsinnige Zärtlichkeiten! Unermeßlich …«. Das notiert sich der knapp 25-jährige Schnitzler über die Anbandelung mit Adele in sein Tagebuch. Nicht die Sandrock ist hier gemeint, sondern die recht kapriziöse und mit einem Fabrikanten verheiratete Adele Spitzer. Die dunklen, abgelegenen Allen, die verschlungenen Wege der Praterauen bereiten hier die romantische Kulisse für die Amouren im Verborgenen – abseits des Volkspratergetümmels.

Hierher schleppt Schnitzler auch eine Vielzahl seiner literarischen Figuren. Kaum der Romantik des Freiluftvergnügens wegen. Die mehr schlecht als recht verzeichneten, nur wenig kontrollierten Örtlichkeiten erweisen sich in seinen Erzählungen und Dramen als besonders praktikabel für eine lüsterne, ausbeuterische Männerschaft. So etwa im Reigen, das Stück, das der Autor bereits 1900 verfasste, aber der strengen Zensur wegen erst 20 Jahre später in voller Länge auf die Bühne kam – und dann gleich einen der heftigsten Theaterskandale in der Österreichischen Theatergeschichte auslöste. Schnitzler hatte bald keinen Bock mehr auf die aggressive, antisemitische Hetzkampagne christlicher und deutschnationaler Kreise gegen das Stück und seine Person. Und verhängt eine Aufführungssperre bis 1982.

In der zweiten Szene des Reigens geben sich der Soldat und das Stubenmädchen ein erotisches Stelldichein. Irgendwo auf dem Weg, »der vom Wurstelprater aus in die dunkeln Alleen führt ... Hier hört man noch die wirre Musik aus dem Wurstelprater; auch die Klänge vom Fünfkreuzertanz, eine ordinäre Polka, von Bläsern gespielt«. Der Ort des Geschehens sagt nicht wenig über die soziale Konstellation der Sexualpartner, die Form der Lust und die Art und Weise des Auseinandergehens aus. Gerade auch in seinen kontrastiven Qualitäten zu den anderen Orten im Stück, an denen es zum Geschlechtsverkehr kommt. Während die Schauspielerin und der Graf in der zweitletzten Szene sich im trauten Heim des Grafen etwas zu steif, zu sehr nach den Regeln des anständigen und stilvollen Fremdgehens annähern, sucht der Soldat das schnelle Vergnügen. Gentlemen-like ist er nur vor dem Akt: STUBENMÄDCHEN: »... Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn.« SOLDAT: »Ah was – G’sicht.« Die Nummer im dunklen Gebüsch ist schnell vorbei. Der Soldat kehrt in Sobotkas Tanzhöhle im Wurstelprater zurück, wo er sich dann neuerlich auf die Pirsch macht. Der Sex mit dem Stubenmädchen war für den Soldaten nicht mehr als ein Programmpunkt. Das Stubenmädchen, ein »süßes Mädl« (bekanntlich die Figur bei Schnitzler, die sich in der Hoffnung auf die große Liebe als Spielzeug freizügig einer ausbeuterischen bürgerlichen oder halbaristokratischer Männerschaft hingeben muss), lässt er desillusioniert zurück. Um die große Liebe von Dauer geht es im Prater – im literarischen wie wohl auch dem realen – also nur selten. Sex ist speziell an diesem Ort so entidealisiert und entemotionalisiert wie die Liebe in der Literatur der Wiener Moderne selbst. Ist mit einem Wort Hermann Bahrs aus seiner Erzählung Die gute Schule – »maschinenmäßige Liebe«. Flüchtig, beweglich und wandlungsfähig ist sie, so mechanisch und maschinell wie die Praterattraktionen selbst, wie Karusselle, Schaukeln und Rutschbahnen.

 

Das gilt ganz besonders für die käufliche Liebe, die sich in den Gebüschen am Rande des Wurstelpraters abspielte. Zur Weltausstellung im Prater 1873 wurden die Prostituierten erstmals erfasst. Sie wurden registriert und mussten fortan ein Gesundheitsbuch (umgangssprachlich »Deckl«) nachweisen, was jedoch nicht alle taten. 1600 Frauen und Mädchen hatte man damals notiert, die »Armee der Prostitution«, wie Stefan Zweig in der Welt von Gestern schreibt, soll jedoch ein Vielfaches betragen haben. Der florierende Menschenhandel brachte unzählige Frauen und Mädchen aus den Reichsprovinzen nach Wien. Neben den Ufern des Wienflusses an der Brigittenau war vor allem der Prater das Aufmarschgebiet für die »dritte Klasse« der Prostituierten, wie sie bereits in einer Flugschrift im Jahr 1848 bezeichnet wurde: Küchenmädchen, Wäschermädchen, Fabrikarbeiterinnen, die in der vermeintlichen Obhut von »Strizzis« oder »Krameltreibern« standen (Bezeichnung für Zuhälter, die Frauen des Gewerbes, umgangssprachlich »Krameln«, den Kunden »zutrieben«). Das Flugblatt nennt als erste Klasse übrigens die Mätressen der Aristokraten, die durch ihr »lasterhaftes« Leben schneller altern, und als zweite Klasse Mädchen herabgekommener Familien, die ihren Körper am Graben, Kohlmarkt, in der Rothenturm- und der Kärnterstraße, am sogenannten »Schnepfenstrich« verkauften. 1900 wurde das Mindestalter für Prostituierte von 14 Jahre auf 16 Jahre angehoben. Das änderte nur wenig am traurigen Geschäft mit der Kinderprostitution, dessen Mittelpunkt der Wiener Prater war und lange blieb. Der Babystrich im Prater – ein »Massenstrich«, so der kommunistische Journalist Karl F. Kocmata.

An dieser Stelle nochmals zurück zur Josephine Mutzenbacher, dem Roman, der es in sämtliche Evergreen-Bestsellerlisten erotischer Literatur geschafft hat, und als einer der wenigen Pornos fixer Bestandteil des Literaturkanons geworden ist. Das ist einigermaßen irritierend, denn der Roman ist inhaltlich doch eigentlich zum Speibn. Was an der Geschichte über ein Mädchen, das mit sieben Jahren die Lust am »Vögeln« entdeckt, sehnsüchtig dem Moment entgegenfiebert, in dem ihre »Fut« sich fürs richtige Vögeln »öffnet« [etwa 1/3 des Buches], sich die Zeit derweilen mit Analsex vertreibt, dann bald schon abwechselnd mit ihrem Vater, ihrem Beichtvater und einem schwindligen Zuhälter verkehrt [ein weiteres Drittel], bis sie mit dreizehn vom arbeitsscheuen Alkoholiker-Vater zur Prostitution freigegeben wird, womit die Geschichte im Grunde endet. – Was daran ‚erotisch‘ sein soll, ist (ohne falsche Prüderie) eine berechtigte Frage. Vollkommen abgebrannt geht die »Mutzenbacherin« im zweiten Teil des nachträglich zur Trilogie erweiterten Mutzenbacher-Komplex‘ ihrem Gewerbe auch im Prater nach. Meine 365 Liebhaber ist knapp fünfzehn Jahre später erschienen, eher nicht mehr von Salten verfasst und reichlich weniger anstößig. Als Ort »armseliger Strichmenschen«, »Pratermädeln«, die »verkommen, frech, neidig, boshaft und streitsüchtig« waren, markiert der Prater räumlich ihren tiefen erwerbsbiographischen Fall: »Sie [ihre Freier] spürten, dass ich grad so arm und noch ärmer war wie sie und waren gut zu mir, so gut halt ein Mannsbild, wenn es geil ist, zu einer armen Dirne ist. Mit vielen ‚Pülchern‘, mit ‚Strottern‘, mit Obdachlosen und gemeinen Soldaten hab ich damals in den Praterauen verkehrt und ihre Schwänze traktiert.« Es folgt eine »anstrengende Petschiererei« mit vier Soldaten – ein Gang-Bang im zeitgenössischen Porno-Jargon – an ihrem »Stammvögelplatz, hinter dem Hausgarten einer kleinen Praterwirtschaft, wo hinterm Zaun gleich die wilde Au war und kein Mensch hinkam« – und eine Vergewaltigung. Das alles wird, wie bereits im ersten Teil, beschwingt und erschreckend lustvoll erzählt. Der Autor der Mutzenbacher hat nicht im Sinn, von ausbeuterischen Verhältnissen einer zur Prostituierten Verleiteten zu erzählen. Er hat vor allem seine lüsterne männliche Leserschaft vor Augen.

Vom pädophilen Mutzenbacher-Komplex ist die Brücke zu Peter Altenberg und einer ganz anderen Schaulust leicht geschlagen. Würde dieser heute noch leben und ebenso offenherzig über seine sexuellen Vorlieben plaudern, dann wäre er schon längst im Häfn. Altenberg sammelte Fotographien von Mädchen unter 14 Jahren in lasziven Posen, mit denen er sein Schlafzimmer »dekorierte«. Als wäre dies nicht schon genug: Er soll, so liest man, die Schamgegend, der auf den Fotographien abgelichteten Mädchen, gar mit den schwarzen Haarlocken seines Pudels »verziert« haben. Kinderpornographie wird im Kontext des Schriftstellers abwechselnd als Zeitphänomen und Kavaliersdelikt gesehen, und so wird der Autor unverdächtig und zumeist liebevoll als Schnorrer, Exzentriker und impressionistischer Kaffeehauskünstler gesehen. Mit seinen erotischen Vorlieben zog es ihn auch in den Prater, zur Völkerschau der Aschanti.

Die Ausstellung von Menschen war im Prater Teil einer längeren menschenverachtenden Ausstellungspraxis. Man sah hier etwa die »Frau ohne Unterleib« – ein Publikumsrenner. Der Direktor des Wiener Tiergartens am Schüttel holte sich 1896 mit pseudowissenschaftlichen Gründen, doch eigentlich für sein sensationsgeiles Publikum, siebzig aus Guinea stammende Aschanti. Zwischen Sommer und Herbst werden die Afrikaner dort lebendig ausgestellt. Sie sollen sich so natürlich wie möglich gebaren – nicht mehr und nicht weniger ‚natürlich‘, wie es den exotischen Vorstellungen der WienerInnen entspricht: nackt, in Hütten lebend, ganztätig (ganztägig?) tanzend. Das Publikum ist begeistert; die Aschanti lösen ein regelrechtes Aschanti-Fieber in Wien aus.

Altenberg soll das Dorf täglich besucht haben, mit Erlaubnis des Direktors dort zeitweise sogar gelebt haben. Obwohl er mit seinem Buch Ashantee Kritik an der kolonialen, zoographischen Zurschaustellung der Afrikaner, ihre Stereotypisierung und kommerziellen Ausbeutung in der Völkerschau üben wollte, verfällt er darin selbst einer kolonialen Perspektive. In seinen schwülstigen, modernekritischen Beschreibungen idealisiert er sie als das noch ungebrochene Wilde, idealisiert ihre Sexualität, die von zivilisatorischer Maßregelung (noch) frei sei. Nicht nur Altenberg selbst, sondern auch sein Protagonist (nicht gerade verhüllend mal Peter A., Herr Peter oder Sir Peter genannt) nähert sich den afrikanischen Kindsfrauen sexuell an: »Ich trete in die Hütte. Auf dem Boden liegen Monambô, Akolé, die Wunderbare und Akóschia. Kein Polster, keine Decke. Die idealen Oberkörper sind nackt. Es duftet nach edlen reinen jungen Leibern. Ich berühre leise die wunderbare Akolé.«

Es gäbe hier noch vieles zu sagen. Eines steht fest: Der Prater der Jahrhundertwende ist ein Heterotop, eine Gegenwelt, ob als fiktiver Raum der Literatur oder Wirklichkeitsraum. Nicht nur als chaotisch-anarchischer Ort, der dem historistisch überfrachteten Prachtbauten-Wien entgegensteht. Nicht nur als Vergnügungsstätte, die außerhalb normierter Alltagsräume steht, und außerhalb der bürgerlichen Prüderie. Der »riesenhafte Garten«, wie von Adalbert Stifter noch biedermeierlich-unschuldig genannt, ist um 1900 das größte Schattenareal der Stadt. Hier sind sexuelle Ausbeutung, verbotene sexuelle Vorlieben und alle nur denkbaren Praktiken an der Tagesordnung. Es wird gerne darauf vergessen, auch in die dunklen Ecken der Pratergeschichte zu schauen, wenn der Blick nostalgisch und verklärend in die Welt von Gestern gewendet wird. Als verruchter Ort der »befreiten« Lust ist der Prater zum Topos, zur Tourismusware geworden. Der Prater, ein offenes Geheimnis.