Im Tindergarten


querstadtein mit ... anonym, räusper räusper

 


Weil Anna Eckert und Georg Wolfmayer verhindert sind, lassen wir uns dieses Mal nicht allein Wien, sondern gleich drei Städte wandernd aneignen. Aber wandern ist so ein großes Wort und schließlich haben wir 2016. Die Zeit ist reif dafür, dass das Wandern digital wird und der flanierende  Blick mit dem, was würde besser zu dieser Ausgabe passen, Ich-finde-dich-geil Wischer vereint wird. Auf drei Dating-Plattformen durch die rote Stadt Marrakesch, die Bankenstadt Zürich und die ewig einmal gewesene Metropole Wien. Aber nur schreiben und schauen, nicht treffen. Ein Selbstversuch.

 


Vorbereitung

Auf Tinder sind alle. Angeblich „geil“ ist auch OKcupid, „das hat mein Bruder in Italien benutzt. Öffnen, wischen, fragen. Nach fünf Minuten war die Erste in der Bar. Hat er gesagt.“ „Wenn du um vier in der Nacht verzweifelt bist, dann installier dir Lovoo.“ Kurzes Nachdenken über das Privatleben meines Freundeskreises … Downloads abgeschlossen. 

Vom Prinzip sind alle drei Apps gleich. Links, rechts, match. Die Logos sind da schon unterschiedlicher und vielleicht vielsprechender. Tinder, klassisch, ein Schriftzug, erinnert aber etwas an Santander. OKcupid präsentiert sich wie eine Milchfirma aus den 1980ern. Lovoos Logo könnte genau so gut von einer burgenländischen Heißluftballonfirma benutzt werden (kommt übrigens tatsächlich aus Sachsen). Meine Phantasie geht mit mir durch. OKcupid spielt mit dem lateinischen cupido = Begierde, Lovoo geht auf den Laut eines Hundes zurück und Tinder heißt Zunder. Gut soweit.

Jede App hat etwas Eigenes, Besonderes, ein Alleinstellungsmerkmal, im Design, als Funktion. Aber sind wir uns ehrlich. Wir wissen alle, um was es geht. Der Flirt braucht kein Mascherl.


Marrakech

Ich will nichts dem Zufall überlassen. Meine Fotos habe ich extra von einer Freundin schießen lassen, weil die weiß ja, bei welchem Foto sie nach rechts wischen würde. Die Vorurteile und -würfe nehme ich hier in Kauf.


Tag 1: Ich bin wählerisch. Mein Radius ist auf fünf Kilometer begrenzt. Kein Bock auf Vorstadt.

Erkenntnis: Tinder wirkt nicht nur vom Design her am aufgeräumtesten. Auch die Fotos sind hübsch. Posierend in Szene gesetzt das Objekt, sind wir uns ehrlich, mehr sind wir da nicht. Lovoo und OKcupid eher nicht so. Mehr Haut und Extravaganz in der Figur ergeben nur beim Eiskunstlauf die wirklich hohen Bonuspunkte. 

Kein Match.

Tag 2: Ich bin wählerisch. Mein Radius ist auf acht Kilometer begrenzt. An der Grenze der Vorstadt ist es sicherlich auch noch ganz nett. 

Erkenntnis: Mehr nach rechts wischen verspricht mehr Matches. 

Kein Match.

Tag 3: Ich bin mein Radius. Mein Radius ist 15 Kilometer. Das gibt’s doch nicht. Ob Hunde- oder Katzenfrau, nix. Ob Wüste oder Bar, nix. Ich werde auf drei Datingplattformen ignoriert. Das ist wie beginnende Pubertät in der Unterstufe. Und die Frage: „Was ist falsch mit mir?“

Erkenntnis: Morgen verzichte ich auf die marrokanischen Hipsterinnen und wische alle nach rechts. Ich werde unruhig.

Kein Match.

Tag 4: Radius 25 Kilometer. Ich mache neue Fotos. Ich im Souk, Sonnenbrille. Ich beim Essen, lächelnd. Ich auf einer Dachterrasse. 

Erkenntnis: Wischen ist begrenzt. Matches prinzipiell nicht. Die Stadt ist sehr schön. Das Wetter gut und das Essen fein. Viele Menschen. Mopedfahren möchte ich hier nicht. 

Kein Match.

Tag 5: Radius auf Maximum. Neue Fotos. Ich mit Katze im Souk. Ich beim Essen mit Katze. Ich auf Dachterrasse mit Katze. Katze lächelt, ich würde sagen, ich auch. Ich gehe ins Maison de la Photographie und schaue mir alte Fotos an. Ich brauche Abwechslung.

Erkenntnis: Ich werde ruhiger, wenn ich über analoge Fotos wische und der Aufseher mich nicht erwischt. 

Kein Match.

PS.: Mopedfahren in Marrakech lässt dich Dinge vergessen, aber eine gute Idee ist es dennoch nicht. 

Tag 6: Ich kann nur noch warten … aber es passiert nichts. Nachricht an die Herausgeberin: „die recherche ist schwierig bis oasch.“

Erkenntnis: Die Herausgeberin ist besessen von der Idee des Selbstversuchs. Sie hat schon eine Idee für die nächste Ausgabe – Pause … klingt eigentlich nicht schlecht. 

Tag 7: Mein erstes Match. „Hi. What are you doing in M?“ – „I am a tourist and I wanna talk to local people.“ Keine Antwort mehr. 

Erkenntnis: Eigentlich keine. Bloß ein Verdacht: Die Menschen variieren fototechnisch auf den drei Apps, in irgendeiner Qualitätsstufe, die mir aber nicht klar wurde.

Total: 1 Match. Was ist das für 1 life. 


Die Herausgeberin ist zufrieden, will aber wissen, was es mit der fototechnischen Qualität auf sich hat, und wir brauchen mehr Stadt. Urlaub ist gerade nicht, also wird Wienwoche angesagt, weil „ich fahre sicher nicht eine Woche nach St. Pölten!“


Wien

Ich nehme Urlaubsfotos aus Marrakech und mische sie zu den von-einer-Freundin-Geschossenen, weil „da wirkst du gleich interessanter.“ Wien sollte eigentlich nicht so schwierig sein. Ich habe den Witz, Charme und ausreichenden Grant.


Tag 1: Mein Radius ist mein Elfenbeinturm, fünf Kilometer, weil „was ist innerhalb des Gürtels? Der Arsch.“ Den Satz habe ich in einer Doku gehört und wollte ihn unbedingt einmal in einem Text verwenden. Die Brücke zum Hemd, das mir näher als der Rock sein soll, kann ich nicht schlagen. Ich bin jetzt wieder Wischer.

Erkenntnis: Ich wusste gar nicht, dass die wieder Single ist! Ich kenne meinen Tindergarten. Lovoo und OKcupid sind mir noch immer ein Rätsel.

Kein Match. 

Tag 2: Meine ersten beiden Matches. „Was soll denn der Punkt bedeuten? Lass dir was besseres einfallen.“ Ich bekomme von einer Freundin meinen Tinderauftritt als Screenshot geschickt, „Lügner, du bist keine 29 mehr.“ Hätte ich 30 angegeben, hätte sie dann zurück-nach-rechts-gewischt statt zu sreenshoten? Auf Lovoo werde ich geliked, kann die Person aber nur sehen, wenn ich zahle. Dazu bin ich noch nicht bereit, vielleicht morgen. OKcupid lässt mich wieder Fragen beantworten. Ich lerne viel über mich selbst, aber niemanden kennen.

Erkenntnis: Wenn ich sie sehe, können sie mich auch sehen. Ob das nicht noch zum Problem wird? OKcupid stellt mir mehr Fragen als X letztens in der Bar. Lovoo lässt schreiben aber nicht sehen. 

2 Match.

Tag 3: Meine Ex ist wieder in der Stadt, ich habe sie auf Tinder gesehen! Hat sich gar nicht verändert. Eigentlich ganz nettes Foto. Hat sich gar nicht verändert!einself! Ich wische sicher nicht nach rechts, aber kann ich einfach so nach links wischen? Wie reagiert man in so einer Situation? Was bedeutet Höflichkeit und Peinlichkeit, wenn dich niemand sieht und keiner weiß, was du denkst? Lovoo lenkt mich ab. Da gibt es eine Radarfunktion. Jeder rote Punkt ist potentielles Potenzial. In der Vorstadt gibt es sehr viele rote Punkte. Einige Matches. Unaufregend. 

Erkenntnis: In der Datingappwelt musst du spritzig, witzig und spontan sein. Ich mache mir dementsprechend Notizen für morgen. Hat meine Ex auch nach links gewischt?

7 Matches. 

Tag 4: Meine Notizen bringen’s. Ich höre mich „ganz interessant“ an. Viel weiter bin ich nicht gekommen. Ich frage zu schnell. Oberflächlichkeit wäre besser, fortlaufende Notizen auch. Bei der Ironie ist die Mimik sehr wichtig. Und Sport scheint echt ein großes Ding in diesem Jahr zu sein. Cafehaussitzen ist ein extravagantes Hobby geworden. Die Matchzahlen erscheinen mir gemütlich. Ich schlafe ruhig.

Erkenntnis: Erstens: mehr Matches bedeuten weniger Zeit und weniger Akku. Ich borge mir so einen Zusatzakku von einem Freund. Zweitens: Obwohl klar sein sollte, dass alle gleichzeitig mit mehreren Personen schreiben, wird Unachtsamkeit gnadenlos bestraft, „das war wohl nicht an mich. Arsch.“ Liebe X, es tut mir sehr leid. 

6 Matches. Obwohl ich vier neue bekommen habe. Man kann also auch entmatchen.

Tag 5: OKcupid ist offensiver als Tinder. Lovoo ist offensiver als OKcupid und später in der Nacht echt direkt. Wer auf Lovoo ist, ist nicht auf Tinder. OKcupid ist eine Schnittmenge. Tinder ist im Vergleich zu Lovoo zartes Vorfühlen. Meine Herausgeberin ist begeistert. Der Selbstversuch im Selbstversuch: ich lasse Freunde wischen. Ich schlafe unruhig und träume, ständig von irgendetwas runter oder raus gewischt zu werden: Ich auf einer Windschutzscheibe. Ich auf dem Zebrastreifen. Ich vom Sessel. Ich vom Fahrrad. Ich vom Cafehaus. Irritation: Ich werde auf den Bürotisch raufgewischt.

Erkenntnis: Beim Lesen von Datingappnachrichten kann ich erröten und meine Freunde sind natürliche Wischer, besonders die Vergebenen, männlich sowie weiblich. Die X und die Y und die Z hätte ich sonst nie kennengelernt.

19 Matches. 

Tag 6: Das erste Mal schon vor dem Kaffee, am Klo sitzend, gewischt. Das ist also die Antwort auf meine Höflichkeits- und Peinlichkeitsfrage. Am Weg in die Arbeit schon wieder gewischt. Ich stelle mich am Tag x-mal vor und frage gleich oft nach privaten Unwichtigkeiten. Ich beginne im echten Leben sehr zynisch auf die Frage, wie es mir geht, zu reagieren. Im Stadtpark habe ich geschätzte hundert Menschen gesehen, die auch alle wischen. Abends beim Wischen im Bett eingeschlafen. Sehr ruhig geschlafen und gut geträumt.

Erkenntnis: An der Metaebene von Datingapps ist niemand, wirklich niemand interessiert. Naiv von mir. Ich stell mich ja auch nicht zu McDonalds und red dort fremde Leute auf Tierhaltung an. 

28 Matches.

Tag 7: Wieso werde ich heute gefragt, ob ich auch Pokémon spiele? War das nicht vor 20 Jahren? Ich glaube, irgendwann wird bei denTop-Ten Fragen Pokémon den Sport ablösen. Warum? Mir fällt auf, dass mich, obwohl ich es eh nicht wollen würde, noch niemand um ein Treffen gefragt hat. Also so auf ein Bier oder so. Ficken war ein paar mal dabei, da habe ich aber immer schon geschlafen. 

Erkenntnis: Tinder ist eine Comfortzone. OKcupid das gleiche nur mit schlechteren Fotos. Lovoo ist wirklich arg. Und, das gestern waren Pokémon-Spieler. Wien bleibt Wien, und das ist wohl das Schlimmste, was man über diese Stadt sagen kann. Danke, Alfred Polgar. 

Total: 27 Matches. 


Die Herausgeberin ist jetzt so richtig angespitzt, fast schon besessen. Sie will noch eine Stadt. Ich kann nicht mehr. Ich fahre doch am Mittwoch auf Urlaub. „Fantastische Idee! Zürich. Da wär ich nie draufgekommen. Wisch mir die Banker her.“ – „Aber das ist ein Familienurlaub.“ – „Du sollst wischen und nicht ‚wischen’.“


Zürich

„Du musst Banker-mäßiger aussehen. Oder zumindest seriöser. Oder Funktionskleidung tragen.“ Vielleicht noch ne Toblerone und auf ner Kuh reiten und in ein Alphorn blasen? Ich beginne an der Seriosität der Tipps der Freundin zu zweifeln und unterstelle ihr leichte Vorurteile gegenüber anderen Ländern, zumindest gegenüber der Schweiz.


Tag 1: Jeder Wischer ist ein Match. Danke Herausgeberin. Ich fühle mich attraktiv, begehrenswert und werde scharf. Die Schweiz liebt mich … obwohl ich kein Gespräch zustande bringe. Ich versteh nicht, was die schreiben. Und gerade das macht mich zum Exoten. So müssen sich Surfer auf Instagram fühlen. 

Erkenntnis: Ich liebe die Schweiz. 

17 Matches.

Tag 2: OKcupid ist in Zürich eine größere Nummer als in Wien und Marrakech. Hashtag Platzhirsch. Lovoo bleibt sich treu und fragt mich auch hier nachts um halb drei nach meiner „Lust?“ Das verstehe ich auch auf Schweizerdeutsch. Der Fotoauftritt bleibt gleich und spiegelt sich in den Anfragen. Tinder seriös, OKcupid zweideutig und Lovoo so richtig direkt zur Sache. Morgen fällt mir hoffentlich endlich ein passender Vergleich ein. Ich bin vom Schreiben müde und noch mehr vom Wischen. 

Erkenntnis: Meine Familie wundert sich, was ich als „Arbeit“ bezeichne. Mit „Recherche“ können sie noch weniger anfangen. 

27 Matches.

Tag 3: Ich täte vier Dates heut Abend haben. Sie wollen den Wiener Schmäh kennen lernen. Wiener Ungustl kommt hier also als Wiener Schmäh rüber. Ich sage, dass ich das für einen Artikel mache. Lovoo schreibt: „Wenn du mich anonym hältst ...“ Zwei weitere schreiben nicht mehr zurück. Die Dritte beschimpft mich. Wirkt aber nicht beleidigend, weil es Schweizerdeutsch ist. Die Foto-Freundin schreibt zurück, dass ich das besser nicht in meinen Text so schreiben soll, weil das wirkt vorurteilhaft. Das sagt sie. Glaube ich nicht, sage ich. Beim Abendessen verbietet mir meine Familie den unter 14-jährigen Mitgliedern der Verwandtschaft von meiner Arbeit zu erzählen. Auf Facebook habe ich den Satz gelesen, „Was ist, wenn ich Tinder durchgespielt habe?“ – „Das ist kein Spiel,“ sagt Verwandter X. 

Erkenntnis: Meine Herausgeberin fragt mich, ob mir die Höhenluft in den Schweizer Bergen nicht gut bekommt, weil ich gefragt habe, ob ich pro Zeichen bezahlt werde. Also auch für die Zeichen, die ich in den drei Wochen in allen drei Datingapps getippt habe. 

Ich will nicht angeben, aber 39 Matches. 

Tag 4: Bei der Bergwanderung gibt es kein WLAN. Pause. Ich merke, dass ich Probleme habe, die Berge in der Ferne zu fokussieren, und vergesse darüber meine schlechte Kondition. Derweil erzähle ich doch meiner Nichte und den Neffen von meiner Arbeit. Die Burschen wollen jetzt Wiener werden, das Mädchen Anwältin werden, „weil dann kann ich dir einmal helfen.“

Erkenntnis: „Ich weiß jetzt auch nicht, was die haben,“ könnte der Leitspruch meiner Familie sein. 

39 Matches.

Tag 5: Vormittags: Meine Verwandten sprechen mir die Kompetenz vernünftiger Kindererziehung ab. Geh bitte, weil mich haben sie aber schon mit dem Luftdruckgewehr auf die BUNTE schießen lassen, mit Sieben.  Am Abend: Diejenigen Familienmitglieder, die mir vorgestern untersagt haben, von meiner Arbeit zu sprechen, wollen heute selber wischen. Wischen als Familienevent. Wir haben großen Spaß und Käsefondue. Am Schluss sind alle betrunken. Ich gehe früher schlafen und lasse dem Rest mein Handy. 

Erkenntnis: Meine Familie ist eigentlich schwer in Ordnung und Schweizer Klischees schmecken gut. 

Matchzahl unbekannt, aber irgendetwas über 70 wird es wohl werden.

Tag 6: Ich habe nicht nur einen Kater, ich habe auch ein Problem. 130 Matches. Da ist gestern etwas aus dem Ruder gelaufen. Ich würde gerne das Spiel wieder auf Null setzen. Ich kopiere den Satz „tut mir leid, das war nicht ich. meine betrunkenen verwandten hatten mein handy.“ In Wien am Klo wischen war weniger peinlich. Aber auf OKcupid war nur die Hälfte angefressen, auf Lovoo keine einzige. Und das ist eigentlich peinlich für meine Familie.

Erkenntnis: Wenn Tinder Kennenlernen beim ersten Afterworkgetränk ist, dann ist OKcupid so der Mitternachtsflirt und Lovoo einfach nur der Restlfick um vier Uhr früh ... oder in anderen Worten: Arte, Pro Sieben und RTL 2. 

105 Matches.

Tag 7: Ich verbringe den ganzen Tag damit, Abschiedsnachrichten zu schreiben, weil „du kannst doch nicht einfach nicht mehr schreiben. Das wäre unhöflich.“ 

105 Matches. Ich hatte weder Zeit noch Lust auf wischen. 

Erkenntnis: Wenn ich irgendwann einmal auswandern müsste, ich würde in die Schweiz gehen. Ich habe 35 Einladungen. Sieben kommen in den nächsten Monaten allerdings beruflich nach Wien. Vier davon sind Lovoo. Ich lösche alle drei Apps. 


Die Herausgeberin ist zufrieden und hat gefragt, ob ich weiß, was „straight edge“ bedeutet ...