Sexarbeit in der Stadt

Topographie der Vertreibung – Eine Skizze

 

von Petra Unger

 


Seit Jahrtausenden sind Sexarbeiterinnen ein immanenter Teil des öffentlichen Lebens in Städten. Wie wird mit ihnen umgegangen? Sie werden verachtet, geächtet und immer wieder auch vertrieben. Petra Unger zeigt die Geschichte von Sexarbeiterinnen in Wien seit Joseph II.


Verortung von Sexarbeit

Der öffentliche Raum ließe sich als eine bürgerliche Öffentlichkeit denken, „[zu dem] alle Akteure gleichermaßen und unbeschränkt Zugang haben und [der] idealerweise die Arena für soziale Begegnung, herrschaftsfreie Kommunikation und die demokratisch legitimierte Gestaltung seiner Funktionen bildet“ So weit die idealistische Theorie aus den 1960er Jahren, als der Begriff „öffentlicher Raum“ zum Thema gesellschaftlicher Debatten wurde und bis heute ist. De facto ist der öffentliche Raum jedoch ein hierarchisierter Ort, der entlang sichtbarer und unsichtbarer Linien, Einschlüsse und Ausgrenzungen produziert und vor allem vielfach umkämpft ist. Marginalisierte oder stigmatisierte Gruppen müssen hier um ihre Anwesenheit kämpfen. Sie sind gezwungen, sich gegen die Interessen der durchsetzungsfähigen Gesellschaftsgruppen und ihren noch durchsetzungsmächtigeren Institutionen wie Staat, Stadtverwaltung und Exekutive zu behaupten. Wer sich öffentlich in welcher Weise bewegen kann, welche Orte wem zur Umsetzung von Arbeits- und Lebensinteressen zur Verfügung stehen und welche Form der persönlichen wie politischen Äußerungen öffentlich toleriert oder gar gefördert wird, ist von zahlreichen (Macht-) Faktoren abhängig und diese sind immer vergeschlechtlicht. Geschlecht und Stadträume sind über ein komplexes Beziehungsgefüge miteinander verbunden. An der Schnittstelle von Geschlecht, Stadt und Stigmatisierung stehen die Sexarbeiterinnen des Straßenstrichs. Sie sind vom Kampf um den öffentlichen Raum in besonderer Weise betroffen und werden seit Jahrhunderten kontrolliert, vertrieben, verfolgt und bestraft. Verfolgung und Vertreibung zwingen sie nicht selten zu Mobilität und an immer andere Orte. Eine fundierte Darstellung der „Topographie der Vertreibung“ des Straßenstrichs könnte die Sicht auf die Stadt grundlegend verändern, bedürfte jedoch jahrelanger Forschungsarbeit. Im Folgenden daher der Versuch einer Skizze und Annäherung.

 

Ein Blick zurück

„Spannen Sie nur ein grosses Tuch über Wien und seine Vorstadt, dann haben Sie gleich ohne Mühe – ein privilegiertes Hurenhaus“, soll Kaiser Joseph II. auf den Vorschlag einer seiner Beamten geantwortet haben, staatlich kontrollierte Bordelle in Wien einzurichten. Der Kaiser ist nahe an der städtischen Realität. Sexarbeit findet im 18. Jahrhundert auf den Straßen, in den Badehäusern der Innenstadt und den Gasthäusern rund um die Stadtmauer, den Bordellen der Vorstadt, im Prater und in Wohnungen statt. Schon damals herrscht Vielfalt in der Sexarbeit: Die zu bestimmten Zeiten anwesenden, gut bezahlten Sexarbeiterinnen rund um die Hofburg und am Graben, die zu anderen Zeiten ebendort arbeitenden Frauen aus einfachen Gesellschaftsschichten. Auch auf den Basteien findet Sexarbeit in einfachen Gasthäusern statt und die Animierdamen am verrufenen Spittelberg in der Vorstadt bieten ihre Dienste durchreisenden Händlern oder noblen Bürgern an, die auf diese Weise ihre sozialen Beschränkungen überschreiten wollen. Sexarbeiterinnen aller Schichten werden im öffentlichen Raum ebenso regelmäßig aufgesucht wie aus diesem vertrieben, in andere Länder abgeschoben oder zu Zwangsuntersuchungen und Zwangsarbeit weggesperrt. Am Beginn des 20. Jahrhunderts verschwinden auch einige Arbeitsorte der Sexarbeiterinnen. Im Zuge der Stadterweiterung wird käuflicher Sex nach der Schleifung der Stadtmauern ab 1857 an den Stadtrand verwiesen. Auch wenn die innerstädtische Anbahnung gehobener Sexarbeit auf der Kärntnerstraße mit ihren Seitengassen, am Graben, Am Tuchlauben, in der Herrengasse, bei der Hohen Brücke oder am Platz Am Hof noch einige Jahrzehnte erhalten bleiben, mit der anbrechenden Moderne zeigen sich erste Formen von Gentrifizierung, bei gleichzeitiger Entstehung neuer Räume für den Straßenstrich. Es sind Orte der Mobilität (Straßen, Bahnhöfe, Hafenanlagen), des modernen Konsums (Warenhäuser, Einkaufszentren) und jene des Vergnügens (Tanzlokale, Kinos), an denen Sexarbeit vermehrt stattfindet. In der Phantasie des aufsteigenden Bürgertums sind sie Bestandteil einer „Topographie der sexuellen Gefahr“. Die schnell wachsende Stadt verunsichert weite Teile der bürgerlich-privilegierten Gesellschaft: „Die Stadt um 1900 wird als [...] bedrohlich und gefährlich wahrgenommen [und] stand so im Mittelpunkt einer aufgeregten und besorgten Aufmerksamkeit“ Das Bürgertum versucht seiner Verunsicherung mit eindeutigen, geschlechtsspezifischen Platzanweisungen zu begegnen und entwickelt zudem die Figur der „weißen Sklavin“, deren heute noch wirksame, unheilvolle Konstruktion aus „Versatzstücken mehrerer mystischer Geschichten“ mit „vom Wege abgekommenen Frauen, von spurlos Verschwundenen, von männlicher Sexualgier, von fremder, abnormer Sexualität, von der alles verschlingenden und gefährlichen Großstadt“ Verfolgung von Sexarbeit legitimiert. Um vor allem bürgerliche Frauen vor all dem zu bewahren, werden sie dem privaten Raum mit den Aufgaben der Reproduktionsarbeit und der Kindererziehung zugewiesen, der durch die Versprechungen des romantischen Liebesideals attraktiver gemacht werden soll. Sexarbeiterinnen konterkarieren als „öffentliche Frauen“ diese neue Geschlechterordnung. Sie verweisen mit ihrer öffentlichen Anwesenheit auf verdrängte Wirklichkeiten wie jener der außerehelichen, sexuellen Aktivitäten oder der sozialen Verwerfungen, hervorgerufen durch die rasant voranschreitende Industrialisierung mit massenhafter Verelendung und regelmäßig ausbrechenden Epidemien. Unter dem Vorwand der Gesundheitsvorsorge häufen sich nun die Razzien am Spittelberg zwischen Neustiftgasse, Faßziehergasse, Burg- und Stiftgasse, Siebensterngasse, Breite Gasse und Museumstraße. Sexarbeiterinnen sollen aus dem Stadtbild verschwinden und werden einmal mehr zwangsweise in Krankenhäuser eingewiesen. Hinzu kommt: Die Eröffnung der Weltausstellung 1873 naht und die Stadt will sich als saubere Touristenattraktion ohne soziales Elend und Straßenstrich präsentieren. Der zunehmend kommerzialisierte öffentliche Raum erlaubt nur bestimmte Formen des Konsums und die Finanzkräftigen entscheiden auf diese Weise, welche Form von Vergnügungen im öffentlichen Raum erlaubt sind. 


Am Gürtel und im Prater

Nach den beiden Weltkriegen und mit der Motorisierung großer Teile der Bevölkerung verändert sich die Topographie der Sexarbeit in der Stadt erneut. Mit der massentauglichen Mobilität des privaten Autoverkehrs entsteht ein neuer, sichtbarer Straßenstrich. Die Durchsetzung einer in beide Richtungen mehrspurigen Durchzugsstraße am Gürtel und die Abwanderung der sozial aufsteigenden Arbeiterschaft in die neu gebauten Wohnsiedlungen am Stadtrand lässt das legendäre Rotlicht-Milieu zwischen Sechshauser- und Hernalser Gürtel mit seinen Gassenlokalen und Bars entstehen. Für die nächsten Jahrzehnte etabliert sich hier eine allgemein tolerierte „Lebensgemeinschaft“ von Barbesitzern, Sexarbeiterinnen, Anrainer_innen und der Polizei. „Leben und leben lassen“ ist die unausgesprochene Devise und die Sexarbeiterinnen verdienen gut. Bald jedoch ziehen sie weiter: zu neu entstandenen Zehn-Euro-Hotels entlang der Felberstraße, Linzerstraße, Hütteldorferstraße und Äußeren Mariahilferstraße rund um den Westbahnhof. Sie bevorzugen Arbeitsorte mit besseren Verdienstmöglichkeiten ohne zum Alkoholkonsum animieren und den Gewinn mit den Barbesitzern am Gürtel teilen zu müssen. Auch die Sexarbeiterinnen in der Pratergegend profitieren von der neuen Mobilität ihrer Kunden. Manche Freier folgen, nachdem 1974 die Kärntnerstraße in eine Fußgängerzone umgewandelt wird, den Sexarbeiterinnen in das illegale Sperrgebiet rund um die Heinestraße mit ihren nahen Hotels, die trotz Verbot von den Sexarbeiterinnen mit ihren Kunden frequentiert werden. Andere Kunden fahren ins Stuwerviertel. Hier werden ihnen günstigere sexuelle Dienstleistung in kleinen Studios und den angrenzenden Parks am Max Winter Platz, der Venediger Au oder dem Grünen Prater angeboten. Illegalisierte Sexarbeiterinnen ohne Aufenthaltsgenehmigung und Gesundheitskontrollkarte finden sich hier häufiger als in den Bordellen und (Stunden-) Hotels der anderen Bezirke. Es sind die besonders prekären und mehrfach ausgegrenzten Gruppen der Sexarbeit auf der Perspektiv- und Nordportalstraße, in der Südportalstraße und der Kaiserallee. Dennoch wird auch hier lange Zeit in toleranter Koexistenz mit den Anrainer_innen gelebt und gearbeitet.


Verhäuslichung der Sexarbeit

Mit dem Wiener Prostitutionsgesetz 2011 ändert sich die Situation der Sexarbeiterinnen in der Straßenprostitution schließlich grundlegend.

Eine neue Phase der Stadtentwicklung setzt ein. West- und Südbahnhof werden neu gebaut und in Einkaufszentren mit Wohngebieten umgewandelt. Die „Problemzone“ Gürtel wird nach dem Beitritt Österreichs zur EU 1995 mit europäischen Fördermitteln aufgewertet. Immobilien werden saniert und in den Stadtbahnbögen schicke Lokale eröffnet, die ein anderes Publikum anziehen. Studierende, Künstler_innen und „Bobos“ wandern aufgrund überhöhter Mieten der Innenbezirke in günstigere Wohngebiete ab und verändern nach und nach die Bezirke Ottakring, Rudolfsheim-Fünfhaus und Leopoldstadt mit ihrem Lebensstil. In unmittelbarer Nähe des Stuwerviertels wird profitable Verdrängungspolitik vorangetrieben: mit dem Um- und Ausbau des Messegeländes in den 2000er Jahren und schließlich ganz mit der Errichtung der neuen Wirtschaftsuniversität ab Anfang 2010 sollen neue Bewohner_innen angesiedelt werden. Für Sexarbeiterinnen ist hier kein Platz: „Ihre Anwesenheit [gilt] als Wertminderung für Immobilien der Wohngegend“. Parallel dazu werden sie in den immer schärfer werdenden öffentlichen Diskursen gleichermaßen zu Straftäterinnen und Opfern einer behaupteten Abhängigkeit“ stilisiert.  Es ist der altbekannte „symbolische Kampfplatz“ mit den ineinander verschränkten, diskriminierenden Kategorien „class“, „race“ und „gender“. 

Selbsternannte „Hurenjäger“ machen mit ihren Kameras Jagd auf die mehrheitlich migrantischen Sexarbeiterinnen und ihre Freier im Stuwerviertel, Bürger_innen-Initiativen formieren sich zum Kampf gegen die Straßenprostitution in der Felberstraße und der Äußeren Mariahilferstraße – mit Fackelzügen, körperlichen Angriffen, Diffamierungen und Medienkampagnen. Die „anständigen“ Bürger_innen finden tatkräftige Unterstützung bei den verschiedensten Bezirks- wie Stadtpolitiker_innen. Die Presse springt freudig-voyeuristisch auf, Polizei wie Bordellbeteiber versichern sich in den öffentlichen Auseinandersetzungen ihrer Existenzberechtigung als selbsternannte Experten und bald wird deutlich: Mit den Sexarbeiterinnen selbst will niemand sprechen und die gemeinsame Zielrichtung ist schnell gefunden: Vertreibung und „Verhäuslichung der Sexarbeit“ ist gewünscht. Eine neue Strategie der Vertreibung aus dem öffentlichen Raum: „Gesellschaftliches Handeln [soll damit] langfristig zielgerichtet, plan- und präzise wiederholbar, somit über Zeiten und beteiligte Personen berechenbar“ werden. Profiteure des „Verhäuslichungsprozesses“ sind Bordell- und Laufhausbesitzer, in deren Häusern Sexarbeiterinnen nun „verschwinden“, dort kontrollierbarer sind und Gewinn generieren. Auch die Polizei profitiert, lassen sich doch in den Indoor-Studios, Bordellen und Laufhäusern neue/alte Gesundheits- und Migrationsregime leichter exekutieren. Die politische Verwaltung der neoliberalen Stadtaufwertung gewinnt Wähler_innenstimmen und die Immobilienbesitzer_innen erhöhen ihre Gewinne durch den sprunghaft steigenden Wert ihrer Wohnungen an der Felberstraße oder im Stuwerviertel. 


Kein Recht

Die Sexarbeiterinnen verlieren mit dieser Entwicklung ihr Recht auf Stadt und öffentlichen Raum. Sie werden mit immer neuen, schikanösen Bestimmungen der regulierenden Stadtpolitik in gefährlich-unbewohnte Gebiete des Stadtrands und so genannte Erlaubniszonen gedrängt verbunden mit zunehmender Rechtlosigkeit. Die „unaufhörlichen Spiralen der Macht und der Lust“  im Kampf um Sexualität außerhalb des dominanten bürgerlichen Ehe- und Liebesideals drehen sich weiter und der öffentlichen Raum bleibt eine seiner Kampfzonen.

Die Demokratisierung des öffentlichen Raums ist damit einmal mehr in weite Ferne gerückt.

Petra Unger, MA