Spiel mit Ulrich Berger

von Maximilian Brustbauer 

 


Das Büro von Ulrich Berger ist nicht wirklich einfach zu finden. Nach dem Aufzug ist im Ersten Stock Schluss. Auf der WU kommst du nicht rein, wenn du vorher nicht die richtige Telefonnummer wählst, erst dann öffnet sich die Glastür.

 

Blauer Teppichboden, links und rechts kleine Arbeitskojen, die Büros der Professor_innen. Irgendwie verläuft der Gang schräg zugespitzt, aber die Fluchtpunkte treffen sich trotzdem auch an seinem Ende nicht, dort ist Bergers Büro. Großer Arbeitstisch, kleiner Tisch für Gäste, drei Stühle, kein Platz auf dem Gästetisch, Prüfungsarbeiten stapelweise und Bücher. Ein Fenster ist leicht gekippt, der Rauchmelder wird durch die E-Wasserpfeife obsolet. Universität 2016. 

Wir kennen uns nicht. Mathematiker und Redakteur. Erwartungshaltung groß: wird das banal oder ernstzunehmend. Es gibt zwei Seiten Fragen, nicht geordnet, Platz zum Reagieren, zum Eingehen auf Antworten, zum Überraschen vielleicht, aber am Anfang direkt ins Thema reinrennen, first things first. 


Was bedeutet Spieltheorie?

Die Spieltheorie ist die Analyse von strategischen Entscheidungsproblemen. Eigentlich ist es ein mathematisches Werkzeug zur Analyse.


Und jetzt bitte die evolutionäre Spieltheorie.

Versuchen wir es so einmal: Die evolutionäre Spieltheorie untersucht Situationen, in denen die Spieler nicht rational sind oder nicht sein müssen und sie ihre Strategien durch evolutionäre Prozesse ändern, adaptieren oder sich diese Strategien auch eventuell ausbreiten.


Wir wollen über Spiele reden und sind in der Theorie gelandet. Wie kam das verspielte Kind Ulrich auf die Idee, sich mit Spieltheorie zu beschäftigen?

Ich habe mich seit früher Jugend für Mathematik interessiert und meine erste Berührung damit war ein Artikel von Douglas Hofstadter. Da war ich 15 Jahre alt, 16 vielleicht. Also eigentlich habe ich Bücher von Martin Gardner bekommen, ein berühmter Populärwissenschaftler, der eine Kolumne im Scientific American hatte, und sein Nachfolger war eben dieser Douglas Hofstadter. Der ist auch der Autor von „Gödl, Escher, Bach – Ein Endloses Geflochtenes Band“, ein Bestseller der 1980er Jahre. Jedenfalls, in einer seiner Kolumnen, ich hatte einen Sammelband, da habe ich über ein Spiel, das damals experimentell von den Lesern des Scientific American gespielt wurde, gelesen. Da bin ich zum ersten Mal auf den Begriff der Spieltheorie gestoßen und ich war fasziniert. Wiedergefunden habe ich das dann im Mathematikstudium in Wien, in einer Vorlesung von Karl Sigmund, da hat es mich gepackt und dabei bin ich geblieben. 

Berger springt also ein bisschen beim Erzählen seiner Vergangenheit, aber hat gelächelt, bei der Erinnerung an sein 15-jähriges Ich. Den Moment ausnutzen, überraschende, große Frage.


Reicht nicht eigentlich gesunde Selbstreflexion und logisches Denken aus, um ein ähnliches Verhalten leben zu können?

Ein Verhalten, wie es durch die Spieltheorie erlernt werden würde, dafür reicht es im Grunde aus, ja. Aber die Frage ist, ob man das überhaupt will.


Warum sollte man das nicht wollen?

In der klassischen Spieltheorie geht man davon aus, dass die Spieler rational sind und jede Information perfekt verarbeiten können. Insofern sind sie Verstand-gesteuert und kühl kalkulierende Nutzen-Maximierer. Da spielen Emotionen keine Rolle. Deswegen sagen manche, in der echten Welt, dass diejenigen, die diesem Homo oeconomicus ähnlich kommen, das sind die wahren Psychopathen. Das soll aber nicht als Kritik an der klassischen Spieltheorie rüberkommen, im Gegenteil, ich verteidige sie.


Wenn Entscheidungen durch die Spieltheorie getroffen werden, hat dann Ethik noch irgendeine Relevanz?

Auf jeden Fall! Ethik hat fast immer Relevanz und die Spieltheorie trifft keine Entscheidungen. Sie ist ein Werkzeug. Nach der Analyse, wenn man dann eine Entscheidung treffen muss, da fließen sicher Aspekte rein, die ethisch motiviert sein können.

Es soll jetzt wieder der Wissenschaftler ins Zentrum gerückt werden, nicht zu lange bei einem Thema bleiben, zurück zu Ulrich, und dann langsam wieder in in die geistige Höhe.


Haben Sie als Kind bei Gesellschaftsspielen eher gewonnen oder verloren?

Peinlicherweise muss ich zugeben, dass ich kein guter Spieler war. Also ich habe regelmäßig gegen meine Schulfreunde in diversen Kartenspielen verloren und ich habe auch in ausgesprochen strategischen Spielen, die keine Zufallskomponente beinhalten, spektakulär verloren. Also es ist bei mir mehr die Theorie als die Praxis.


Sind Sie ein jähzorniger Mensch, wenn Sie verlieren?

Nein, überhaupt nicht, zumindest beschreiben mich andere eher als einen ruhigen Typ, der nicht gleich in Panik verfällt.


Haben Sie schon einmal auf die Spieltheorie zurückgegriffen, um beruflich weiterzukommen?

Naja, insofern, als mein berufliches Weiterkommen an meiner Beschäftigung hängt, mache ich das ja täglich. Um aber strategisch einzufädeln … (Denkt nach) … ja, habe ich mitunter schon. Aber nicht in einer Art und Weise, die jemanden nicht einfallen würde, der keine Ahnung von Spieltheorie hat. Manche Entscheidungen stellen sich als Spiel heraus. Es würde mich aber überraschen, wenn sich durch Wissen um die Spieltheorie für jemanden bedeutend viele Vorteile ergeben würden. 


Würden Sie dem Satz zustimmen: Wenn mir die Spieltheorie ein Verhalten, eine Entscheidung nahe legt, dann werde ich mich in diese Richtung bewegen?

(Denkt nach) … Dem zuzustimmen oder das abzulehnen ist schwierig, weil dieser Satz an sich nicht viel Sinn macht, weil die Spieltheorie kein Verhalten nahelegt. Sie kann mir nur sagen, wenn ich meinen finanziellen Gewinn steigern möchte und das Verhalten der anderen so und so ist, dann sollte ich dieses und jenes tun, aber das wüsste ich im Normalfall auch ohne sie. Die Frage ist daher, ob mein Ziel die Maximierung meines Ziels sein sollte, und das sagt sie mir eben nicht. 


Ist die Spieltheorie dann nicht irgendwie doch selbsterfüllende Prophezeiung?

Das ist trivial. … (Lachen) … Wenn ein Gerücht entsteht, dass zum Beispiel ein Bankencrash kommt, morgen, dann laufe ich jetzt gleich zum nächsten Bankomaten und will Geld abheben, solange es noch geht, und wenn das alle tun, dann kommt es eben fix zum Zusammenbruch. Also allein durch die Angst vor etwas kann dieses etwas eintreten. Die Spieltheorie kann so etwas beschreiben und unter Umständen auch Gründe geben. (Zufriedenes Lachen)

Das war jetzt eine naive Frage, das hat er bemerkt, er weiß mehr über das Thema als sein Gegenüber, das gefällt, weil es stimmt, er lehnt sich etwas zurück in seinen Sessel, wieder etwas weiter weggehen mit der nächsten Frage. 


Welche Spiele haben Sie als Kind gespielt?

Fußball habe ich gespielt, ab und zu ein bisschen Schach und Mühle und Vier gewinnt, nichts außergewöhnliches, glaube ich. 

Damit hat er nicht gerechnet, er sitzt jetzt wieder aufrecht.


Fußballfan oder Formel Eins?

Ein überraschtes Augenpaar. 

Eigentlich weder noch, aber im Fall, dass ich mich hier jetzt entscheiden muss, dann Fußball. Sonst bin ich aber kein Fan von irgendwelchen Sportarten. Ich habe lange Tennis gespielt, in der Zeit als Thomas Muster Nummer Eins war, aber das ist eben schon so lange her, wie es her ist, dass er Nummer Eins war. 

Berger, 45, Uniprofessor, Institutsvorstand, Gegner der Pseudowissenschaften und Blogger spielte Tennis, das gefällt beim Erzählen, verständlich, ein Zug aus der E-Wasserpfeife, zurücklehnen. Zeit, mehr über den Charakter zu erfahren, nur kurz.


Onlinepoker oder Mikado?

Eher noch Mikado, da kenne ich zumindest die Spielregeln und da kann man auch kein Geld verlieren. 


Kopfwehtablette oder aushalten, wenn Sie verkatert sind?

Kopfwehtablette!


Dresscode oder was gerade passt.

Was gerade passt. 


Kaffee oder Energydrink?

Kaffeeeee! Auf jeden Fall Kaffee. 

Er hat die Fragen genossen, weil ungewöhnlich, weil er das in so einem Rahmen noch nicht gefragt wurde. Stimmung jetzt endgültig entspannt und wasserpfeifengesättig, angenehm. Jetzt können die großen Themen kommen: Politik.


„Wenn ein Politiker nicht wiedergewählt werden kann, folgt er stärker seinen persönlichen Überzeugungen?“ Was hat das mit der Spieltheorie zu tun?

Das hat insofern damit zu tun, als dass die Entscheidungen eines Politikers immer Entscheidungen eines Spiels sind und da ist die Wählerschaft ein Mitspieler. Wenn ein Politiker nicht mehr wiedergewählt werden kann, dann kann ihm die Zustimmung egal sein. Er muss ja nicht mehr seine Chance maximieren.  


Was ist also besser? Erwin Pröll ist seit über 20 Jahren Landeshauptmann oder der US-Präsident kann nur zwei Amtsperioden haben?

(Lautes Lachen) … Ich würde ganz allgemein eine Beschränkung der maximalen Amtszeit bei Politikern sinnvoll erachten, nicht nur wegen des Pröll-Beispiels. 


In der Politik wird oft der Begriff „Machtpoker“ benutzt. Wie kann das Bluffen des Gegenübers erkannt werden?

Sagen wir so, die Frage an sich hat nur insofern mit Spieltheorie zu tun, als dass das Bluffen in der Spieltheorie sehr wichtig ist, im Sinne einer gemischten Strategie. Bei einem Politiker ist Bluffen auch Teil der Lösung, also für ihn. In der Spieltheorie habe ich aber keine Möglichkeit, das Bluffen zu erkennen. Was man weiß, dieses Bluffen kann erkannt werden, aber nur von guten bei ungeübten Spielern, die Profis lassen sich das nicht anmerken. Wer sich etwas anmerken lässt, wird kein Profi. Ich vermute jetzt einmal strategisch, dass das beim Machtpoker ähnlich funktioniert. 


Ist Politik ein Spiel?

(Durchatmen und nachdenken) … Alles ist ein Spiel, also natürlich auch die Politik, aber ein sehr komplexes. Denn es sind oft nicht nur die Strategien, die zur Verfügung stehen, unklar, sondern auch die Ziele.

Gut gemacht, gute Antworten, Prüfung bestanden. Nächstes Thema: Moral. 

Darf man alles mathematisch berechnen, zum Beispiel ob Gouverneure in stramm konservativen US-Bundesstaaten in ihrer ersten Amtszeit mehr Todesurteile unterzeichnen als in ihrer zweiten?

Ob man das berechnen darf? … (bewusstes Nachdenken; und er weiß jetzt natürlich, dass in diesem Gespräch seine Forschung nur der Aufhänger war) … Also es geht ja darum, im Nachhinein zu schauen, ob die Voraussage zutrifft, und die entsprechenden Daten zu erheben. Das darf man auf jeden Fall, würde ich jetzt sagen. Das soll man sogar, weil hier Forschung Tendenzen aufzeigen kann und im Idealfall erkennen lässt, welchen Anreizen diese Gouverneuren unterliegen und das könnte im Idealfall zu einem Umdenken führen. Also, ja, das darf man. 


Geht Mathematik und Moral zusammen?

Auf jeden Fall. Die Mathematik ist nur ein Werkzeug und sinnvoll eingesetzt kann das überall Positives leisten.Moralsysteme werden zum Beispiel in der evolutionären Spieltheorie moduliert und mathematisch analysiert. Dabei geht es nicht um die Frage, welche Moral wichtig ist, sondern wie solche Modelle entstehen können und wie sie stabil bleiben können, über die Zeit. 


Ist die Spieltheorie fairer als die Moral?

Die Spieltheorie ist weder fair noch unfair, sie ist ethisch neutral. Genauso wie man nicht fragen kann, ob die Wahrscheinlichkeitstheorie schön oder hässlich ist. … Wobei man das noch eher sagen kann. 

Der Wissenschaftler mit einem Lächeln, das aussagt: „Ohja, die Wahrscheinlichkeitstheorie ist wunderschön.“ Wieder kurzer Einschub für den Persönlichkeitsteil bevor es zum letzten großen Thema gehen wird.


Festival oder Klassisches Konzert? 

Indifferent … (lächeln).


Iphone oder Android?

Android.


Binge watching oder binge reading?

Binge reading. 


Park oder Caféhaus?

Caféhaus.


Chaos oder Ordnung?

Ordnung mit ein paar Nischen für das Chaos. 

Das war jetzt die letzte entspannende Pause, noch einmal konzentrieren, es geht jetzt um die Gesellschaft, wie sieht der Uniprofessor unsere Zukunft?


Karl Sigmund schreibt in einem Aufsatz, dass es bei Spielen auch Ausbeuter oder Defektoren gibt, die das System ausnutzen oder schlimmer, es zu ihrem eigenen Vorteil zerstören. Werden wir als Gesellschaft irgendwann lernen, dass Konflikte schlecht sind oder muss es immer wieder einen Störspieler geben?

Das Problem ist, wir wissen ja, dass Konflikte schlecht sind, aber das Wissen allein reicht nicht, um sie zu vermeiden. Ich versuche die Frage mit der Spieltheorie zu beantworten: Was sich durchgehend zeigt, ist, dass es typischerweise stabile Kooperationen gibt, die abrupt enden und in eine Phase des Konflikts übergehen. Aber das ist nicht das Ende, sondern es kommt immer wieder zur Auferstehung der Kooperation, es ist etwas Zyklisches, was man erwartet. Auf den Punkt gebracht: Wir brauchen den Störspieler nicht, aber er kommt trotzdem.


Und konkret jetzt auf die Gesellschaft umgelegt?

Das geht nur teilweise. … (Denkt nach und schaut an die Decke) … Was man machen kann, ist die kulturelle Evolution zu untersuchen, sprich, Prozesse der Änderung von Strategien, die nicht auf biologischer Vererbung beruhen, sondern auf Imitation. Soziale Prozesse, die sind dem sehr ähnlich, nicht identisch, aber vom Prinzip her. Was man nicht umlegen kann, ist die Kooperationssache, weil es ja schon in der evolutionären Spieltheorie nicht passt. 

übersetzung in kursiv


Karl Sigmund sagt aber auch, dass es immer wieder kurze Phasen des Zusammenbruchs der Kooperation gibt. Erleben wir das gerade, den Zusammenbruch des Spiels?

Ich hoffe es nicht. Es kommt darauf an, welches Teilsystem man betrachtet, die Gesellschaft an sich, dann würde ich meinen, es ist zu früh für Endzeitstimmung. Wenn man sich den Zusammenhalt und die Kooperation innerhalb der EU anschaut, da gibt es bedenkliche Tendenzen, da könnte ein Zusammenbruch der Kooperation bevorstehen. Im Nachhinein wird man es wissen, dass es da einen Punkt gab, von da an passierte der Zusammenbruch der Kooperation. Was fix ist: Im Nachhinein muss es immer wieder mühsam aufgebaut werden. 

Das ist jetzt wenig befriedigend, für alle und auch für beide hier am Tisch, diese Erkenntnis. Aber das Interview soll so nicht enden, ein letzter Versuch noch ein Lachen zu bekommen oder im Weinen zu enden. Letzte Frage:


Können also nur solche ständigen Herausforderungen die Gesellschaft positiv weiterbringen?

Wenn ich das „nur“ betone, dann nein. Aber auch solche ständigen Herausforderungen sind eine Chance zu lernen, dass man mit der Zeit vielleicht besser damit umgehen kann, zukünftige Herausforderungen besser zu bewältigen. Aber das ist ein frommer Wunsch. Das Problem mit zukünftigen Herausforderungen ist, dass sie nicht vorhersehbar sind, egal welcher Art sie auch sein mögen. 

Weder lachen noch weinen, aber ein tiefer Zug aus der E-Wasserpfeife macht den Abschluss. Erkenntnis: Alles ist ein Spiel, die Mathematik, die Spieltheorie und das Leben, ein Spiel, das Gewinner und Verlierer hat und immer auch einen kleines, gemeines Kind, das alles kaputt machen will, das uns aber dadurch erst recht zeigt, wie schön gutes Zusammenleben ist.