Unsere Version des Spiels

 

 

 

Die besten Geschichten spielen immer im Keller. Dort unten liegt das Gerümpel, Verdrängte, das im Freud'schen Sinn Unbewusste und der Seelenmüll, also das, womit sich Theater beschäftigt.

 

Schade, dass es sich so selten hinuntertraut. Bei Thomas Bo Nilssons einundzwanzigtägiger Performance "Cellar Doors" dürfen die Zuschauer sich frei im Schauspielhaus bewegen. Vorgegeben ist lediglich die Richtung: abwärts. Nilsson ist ein Zimmermann alptraumhafter Hyperrealitäten. Jede seiner Arbeiten entwirft einen in sich geschlossenen Mikrokosmos. An der Berliner Schaubühne war es ein Brennpunktkiez, inklusive Eckkneipe, Nagelstudio und Problemmigranten. In Wien entwirft er eine Kleinstadthölle im Geiste von "Twin Peaks", mit babybreifarbenen Badvorlegern und vollgekrümelten Dinosaurier-Tischsets. Dass sich deren Ränder nach oben rollen, als seien sie schon jahrzehntelang in Gebrauch, spricht für die Spielwut des schwedischen Regisseurs. Mit dessen Protagonisten können und sollen die Zuschauer in Kontakt treten, Mau Mau spielen, Gurkenwasser trinken, ihnen zuhören. Wenn der kleine Junge mit den komischen Haaren klagt, dass ihm niemand das Butterbrot schmiert, hört man die Heile-Welt-Fassade förmlich bröckeln. Damit nicht genug, gibt es ein Spiel im Spiel. Aus einer zweiten Realitätsebene kommend streifen die sogenannten Fighter, in Lackleder gekleidete Computerspielfiguren, durchs Dinosaurier-Wohnzimmer. Eigener Aussage zufolge sind sie Gefangene, die im Kampf um ihre Freiheit von uns Zuschauern gelenkt werden und von den Besuchern einer das Stück begleitenden Website. Klingt kompliziert? Ist es auch. Weder wird der Zusammenhang klar zwischen der "Twin-Peaks"-Dystopie und den "Pits", jenen Kellerlöchern, in denen die "Fighter" hausen, noch durchschaut man die Regeln der "Fights". Aber selbst abzüglich all dieser logischen Mängel funktioniert "Cellar Doors" dahingehend, dass man danach ein anderer ist. Ein vor dem Spiel gibt es nicht mehr.

 

Irgendwann schaue ich mit einer halbnackten Lolita YouTube-Videos und blättere dabei in ihren "Bravo"-Heftchen, während sie mir die Vorzüge von Justin Biebers Arsch aufzählt. Dann zitiert sie zwei "Fighter" in ihr Kinderzimmer und fordert mich zum Mitspielen auf. Ich könnte die beiden Lack-und-Leder-Jungs zwingen, mit Wasserbomben zu werfen, sich zu küssen oder das Gesicht zu zerkratzen. Genauso gut könnte ich sie mit anderen Zuschauern vor den grausamen Teenies beschützen, als Bündnis gegen einen aus purer Langeweile vollzogenen Sadismus. Auch davon handelt "Cellar Doors", von Moral und dem Mut zu handeln. Einfach nur da sein, wie das im Theater gemeinhin der Fall ist, funktioniert hier nicht.

 

Konzepte dieser Art heißen Immersive Theatre. Beispiele sind die simulierten Computerspiele des deutschen Kollektivs Machina ex oder das Kauderwelsch-Festival "Talking straight", das vergangenes Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war. Während die einen das als Mitmachtheater verspotten, loben andere es als zeitgemäß. Vieles spricht dafür, dass unser veränderter Medienkonsum neue Formen des Zuschauens verlangt. Es wirkt minimal unzeitgemäß, im dunklen Saal neunzig Minuten lang mit dem Nebensitzer um die Armlehne zu kämpfen, während das Smartphone in der Tasche mehr weiß von der Welt als alle Shakespeare-Dramen zusammen. Was nicht heißen soll, dass die sogenannte vierte Wand, also die strikte Trennung zwischen Zuschauer und Bühne, aufgehoben ist. Aber sie wird sich behaupten müssen gegen neue Formen des Sehens. Keinesfalls hat das Theater ausgespielt im Kampf gegen das Smartphone. Es muss sich lediglich auf seine Taktik besinnen: analoge Gegenwart, die Anwesenheit anderer Menschen, die Flüchtigkeit des Moments. Und die Möglichkeit des Zuschauers, die Regeln mitzubestimmen.

 

Was aber, wenn man von einer kaugummikauenden Bauchtaschentussi aufgefordert wird, einen nackten Mann auf ein Bettgestell zu schnallen, damit er gewaschen werden kann? Dann befindet man sich mit großer Wahrscheinlichkeit in der zweiten aufregenden Theaterproduktion dieses Wiener Sommers. Verantwortlich dafür ist das dänisch-österreichische Performancekollektiv Signa, zu dem von 2005 bis 2014 auch Thomas Bo Nilsson gehörte. Bislang reicht sein Geschick nicht an das seiner Mentoren heran. Noch stimmiger, noch detailverliebter sind die Arbeiten von Sina und Arthur Köstler, die Bordelle ("Club Inferno"), verlassenen Schulen ("Schwarze Augen Maria"), Frauenhäuser für osteuropäische Prostituierte ("Das ehemalige Haus"), die ihnen als begehbare Bühnenbilder und zugleich Handlungskatalysator dienen. Bei "Wir Hunde/Us Dogs", Signas erster Wiener Produktion, ist es ein Hundeverein. In einem sanierungsbedürftigen Haus in der Faßziehergasse lädt "Canis Humanis" zum Tag der offenen Tür. Der einzige echte Hund ist ein Zwergpinscher, alle anderen "Lieblinge" tragen zwar Windeln und alberne Zopfgummis wie manch armes Schoßhündchen, sind aber eindeutig mehr Humanis als Canis. Es sind "Hundsche", Mischwesen zwischen Mensch und Hund. In der Signa'schen Logik kann jeder zum "Hundsch" werden, er geht dann plötzlich auf allen Vieren, hat seine Körperausscheidungen nicht unter Kontrolle und spricht nur noch in unvollständigen Sätzen oder verstummt ganz. Während bei "Cellar Doors" das Spiel aus Anweisungen an die Fighter bestand, wirkt es hier zunächst ganz unschuldig: Raufe mit dem Performer um seinen Knochen, lass ihn Männchen machen, wirf Stöckchen. Dankbar für jede Aufmerksamkeit sabbert er Dir die Jeans voll, bevor er sich in seine Deckenhöhle neben der Heizung zurückzieht.

 

Fünf Stunden lang darf der Zuschauer im Haus in der Faßziehergasse verweilen. Er kann der Einladung der einzelnen Familien zu Kaffee und Kokosmakronen folgen, Kartoffeln schälen, die anschließend zu Suppe verkocht werden, später gibt es selbstgebrannten Marillengeist. Er kann sich ans Sterbebett des Vereinsgründers Graf Trenck von Moor setzen und erfahren, warum der "Hundsch" ohne sein Herrchen nicht überleben kann. Er kann "Hundsche" an der Leine zur Toilette führen, sie mit Elektroschockern quälen, ihnen Hundekekse zu fressen geben. Er kann sie ausziehen, auf ein Bettgestell schnallen und waschen, wie es die Bauchtaschentussi befielt. Egal wie er sich entscheidet, es ist immer seine Version des Spiels. Dass er sich dabei unwohl fühlt, ist kein Zufall. Auch ohne theoretischen Überbau (Homo ludens, Hegels Herr-Knecht-Dialektik, "Die 120 Tage von Sodom") gruselt einen der Anblick von müde hechelnden Windelträgern, die am Halsband ins Körbchen geschleift werden genauso wie deren vermeintliche Heiterkeit, wenn sie freudig bellen und sich gegenseitig an den Geschlechtsteilen schnuppern. Am meisten jedoch gruselt es einen im Keller. Dort befindet sich der Zwinger, Verwahrungsort der besonders ungezogenen "Hundsche". Auf nacktem Stein kauern nackte Performer, der Rücken gezeichnet von der Peitsche ihres Herrn. Wie ein Spiel sieht das nicht aus, nein, ganz und gar nicht. Jetzt sind wir Zuschauer am Zug. Man kann das schlimm finden, Publikumsbeschimpfung betreiben, nach Hause gehen. Oder man nimmt das Angebot dieses schmerzhaften, fordernden Theaters an. Zu dessen Konzept auch das fehlende Drehbuch gehört. Die Regeln des Spiels definieren wir.