Unser Kampf


VORSPANN


In der Josefstadt herrscht Krieg. In den Parks, wo Verliebte sich küssen. In den Gassen, wo Bilder aus Kreide den Boden zieren. Und vor meinem Fenster, an dem gerade ein Kinderwagen langsam vorbeirollt. Überall, an jeder Ecke, in jeder Straße wird in meiner Nachbarschaft gekämpft – und ich hatte keine Ahnung davon. Bis vor ein paar Tagen, als ich beschloss, bei diesem Krieg mitzumachen. 


Welcome Agent, you must choose a side, begrüßt mich eine Frauenstimme aus meinem Smartphone. Es ist Freitagnachmittag und ich muss mich entscheiden: Grün oder Blau? Choose carefully. This choice is final, sagt die Stimme. Ich zögere – und berühre das Display. Blau war schon immer meine Lieblingsfarbe. Ab jetzt sind die Grünen meine Feinde.


Bereits vor ein paar Jahren erzählte mir ein Bekannter von Ingress. Damals war das Smartphone-Spiel, entwickelt von einer Tochterfirma von Google, gerade fürs iPhone herausgekommen. Ingress is not a game, lautet der offizielle Werbespruch. Und das fand auch mein Bekannter – er war süchtig nach dem Spiel. Ingress, erklärte er mir, wird nicht am Schreibtisch oder von der Couch aus gezockt. Sondern draußen in der Stadt, per GPS am Smartphone. 


Location acquired ... Registered. Welcome Agent. An diesem Freitagnachmittag also logge ich mich zum ersten Mal ein. Ich bin ich skeptisch und im Spiel ein Niemand: Level 1. Distance walked: 0. Action Points: 0. Inventory: almost empty. Das, was ich auf meinem Display sehe, kommt mir dafür ziemlich bekannt vor: Da ist die Straße, in der ich wohne, dort die Bäckerei, in der ich hin und wieder Brot kaufe, und daneben die Bar, in der es immer spät wird. Trotzdem erkenne ich das Grätzl, das seit über zwei Jahren mein Zuhause ist, fast nicht wieder: Links und rechts schießen Fontänen in die Höhe, manche sind grün, viele sind blau. Überall auf der Straße diese silbrigen Kügelchen, die ich wie ein Magnet anziehe – oder besser gesagt: der blaue Pfeil am Display. Don’t be afraid. The world around you is not what it seems, sagt die Frauenstimme. Our future is at stake. 


Ingress ist eine Mischung aus Geocaching und Foursquare, ein sogenanntes Augmented-Reality-Game. Das heißt, das Spiel bindet die echte Umgebung per GPS auf eine Google-Maps-Karte ein und vermischt so auf dem Display Fiktion mit Realität. Anders gesagt: Der Ort, an dem man sich befindet, ist das Spielfeld. Damals, Ende 2012, als Ingress herauskam, eine Revolution. Mittlerweile wurde es mehr als 14 Millionen Mal heruntergeladen. Nach Honkong soll Wien die Stadt mit den meisten aktiven Spielern sein, gemessen an der Gesamtbevölkerung. Hunderte Ingresser, wie sie sich selbst nennen, spazieren pro Tag mit ihren Smartphones durch die Gegend. Und das sind nur die, die regelmäßig zocken. Die Dunkelziffer jener, die sich registriert haben und hin und wieder dabei sind, ist viel größer. Dieses Spiel treibt hunderttausende auf der ganzen Welt vom Schreibtisch weg – vor die Haustür – und das jeden Tag und jede Nacht. Seit Jahren. Warum?

Ein paar Tage später, ein warmer Sommerabend. Auf dem Sobieskiplatz im 9. Bezirk sind alle Tische besetzt, Feierabendstimmung. Nur an einer langen Tafel sitzen etwa 30 Männer und Frauen, die schweigend auf ihr Handys starren, vor ihnen ein paar Bier, Wein und Spritzer. Wir deployen noch, dann sind wir bei dir, ruft mir einer im Ingress-T-Shirt zu. 


Die Geschichte, um die sich das Spiel dreht, geht etwa so: Aus der Erdoberfläche sickert Exotische Materie, eine unbekannte Kraft, die vermutlich von Aliens stammt. Um die Kontrolle über die Exotische Materie kämpfen zwei verfeindete Fraktionen: Die Erleuchteten – wegen ihrer grünen Farbe im Spiel auch Frösche genannt – meinen, dass diese Substanz der Menschheit nützen kann. Der „blaue“ Widerstand oder besser die Schlümpfe, die sich an diesem Sommerabend am Sobieskiplatz im 9. Bezirk versammelt haben, halten sie für schädlich.


Ingress ist nur ein Smartphone-Spiel. Trotzdem findet es nicht nur am Bildschirm statt, sondern hat eine ganz reale Komponente – wie den gemütlichen Stammtisch im Alsergrund. Ich setze mich an die Tafel, packe mein Smartphone aus und lerne schnell die Schlümpfe aus meiner Nachbarschaft kennen. Die Ingress-Familie zum Beispiel: Vater, Sohn, Tochter und manchmal auch die Mutter spielen für die blaue Fraktion. Steffen hat sich deshalb registriert, weil er sich vor ein paar Jahren an seinem neuen Wohnort, einem Kaff im Nirgendwo, wahnsinnig langweilte und die Gegend kennenlernen wollte. Thomas, der seit Anfang an dabei ist, prostet mir zu. Er ist im Spiel so weit, dass der ein oder andere Action Point keinen Unterschied mehr macht. Und da sitzt Michi, derzeit ohne Job. Mit Ingress, sagt sie, vertreibt sie sich die Zeit und lernt neue Leute kennen. 


Ingress, erfahre ich, spielen natürlich viele IT-ler und computeraffine Menschen, aber nicht nur. Die verschiedensten Altersgruppen, Berufe und Interessen treffen hier, am Sobieskiplatz, zusammen. Nachdem die Blauen den Platz im Spiel unter ihre Kontrolle gebracht haben, wird Bier getrunken – und natürlich über Ingress gesprochen. Wie viele APs hast du denn schon? Wow, nicht schlecht. – Hey, du. Brauchst du eine rote Kapsel? Ich drop dir mal eine.  


Neulinge wie ich werden freundlich aufgenommen. Virtuell und in echt. Sensenschwinger, der in Wirklichkeit natürlich anders heißt, reicht mir im Spiel eine rote Kapsel, einen wertvollen Gegenstand. Steffen zeigt mir auf seinem Smartphone, wie ich noch schneller auf höhere Levels komme. Und so langsam verstehe ich meinen Bekannten. Ingress ist ein Spiel, das man alleine spielen kann – aber eigentlich ist das Gemeinsame viel wichtiger. 


Am nächsten Morgen gehe ich als Schlumpf raus in meine Nachbarschaft. Um mein Team zu stärken muss ich möglichst viele Portale, aus denen diese exotische Materie tritt, erobern. Meistens sind es Sehenswürdigkeiten, Verkehrsknotenpunkte, Hausfassaden oder Plätze – Orte von signifikantem, historischem Wert, wie es offiziell von den Spielentwicklern heißt. Sie entscheiden letztendlich, wo Portale stehen. Manchmal ist die Ortswahl aber umstritten: Letztes Jahr mussten Portale in ehemaligen Konzentrationslagern entfernt werden – nachdem Holocaust-Überlebende protestiert hatten. Die Entwickler entschuldigten sich. 

Hier in der Josefstadt sind die Portale weniger spektakulär: „Fassade mit Ornamenten“, „Wiener Uhr“, „Musikschule“, oder „Hirschwirt“. Das schmälert meinen Ehrgeiz nicht. Ich will so schnell wie möglich „mein“ Grätzl unter meine Kontrolle bringen. Aber die Konkurrenz ist hart. 


Mein Nachbar zum Beispiel. Ich habe ihn nie getroffen, aber ich weiß bald, welchen Weg er zur Arbeit nimmt, wann er Feierabend macht und dass er gerne abends seine Runden um den Block dreht – und meine Arbeit zunichte macht. Ich weiß das, weil ich im Spiel seine Aktionen genau verfolgen kann. Und er meine. 


9:06 PM

Your Portal Altbau Johann Strauss (Laudongasse 44, 1080 Vienna, Austria) is under attack 

9:06 PM

Your Portal Sie trugen unsere Farben (Albertgasse 51, 1080 Vienna, Austria) is under attack 


Fast alles, was ich im Spiel mache, können die anderen mitverfolgen – egal ob Freund und Feind. Ich bekomme zum Beispiel eine Nachricht, wenn jemand ein Portal, das ich erobert habe, angreift. Ich kann auf der Karte nachvollziehen, wer gerade wo welchen Ort erobert. Mein „Agentenprofil“ ist für alle einsehbar, mein Spielfortschritt kein Geheimnis. Das, was ich in der Stadt mache, wo ich bin, welche Straßen ich auf und ab spaziere – alles ist öffentlich. Mehr, als mir vielleicht lieb ist. Wer will, findet schnell heraus, wo ich wohne und wie mein Tagesablauf aussieht. Ingress, sagt eine Spielerin mal scherzhaft zu mir, ist ein Stalkerspiel.


Entschuldige, ich war ein wenig faul die letzten Tage. – Ja, das habe ich gesehen. Peter schaut mich ein bisschen tadelnd an. Ich aber bin so auf das Display fixiert, dass ich gar nicht merke, dass er wieder neben mir steht. Peter – rotes T-Shirt, Schnauzbart, Bauchtasche, ich schätze Mitte Vierzig – wohnt ein paar Straßen von mir entfernt und ist ein Ingress-Veteran. Er kennt das Spiel wie kein anderer in meiner Nachbarschaft. Und im Gegensatz zu mir ist er längst ein Top-Agent: Level 16, zig Millionen Action Points und stolze 3000 Kilometer, die er wegen des Spiels zurückgelegt hat. In den letzten Tagen haben wir uns ein paar Mal getroffen und sind durch die Straßen spaziert, natürlich mit extra Akku-Pack und Smartphone vor der Nase. Ich komme mir ein wenig blöd vor, aber der Stolz überwiegt. Mit Peters Hilfe erreiche ich Level 6. 


Lass uns noch ein paar Portale verlinken, bei der Apotheke und beim Theater können wir deployen. Wenn Peter spricht, verwendet er oft Begriffe aus dem Spiel: hacken, deployen, linken. Er kennt die Josefstadt in- und auswendig, oder besser gesagt: wie sie in der Ingress-Welt funktioniert. 


Die Josefstädterstraße zum Beispiel ist die Froschautobahn. In der Früh, am Weg zur Arbeit, schießen manche Spieler von der Straßenbahn aus auf die Portale, erzählt Peter. Bei Verkehrsknotenpunkten – U-Bahn-Stationen, Bus-Haltestellen – oder überhaupt in Gegenden, wo viele Touristen unterwegs sind, behält keine Fraktion die Oberhand: Da wird wild geschossen und quer verlinkt. Portale im ersten Bezirk wechseln ständig ihre Besitzer. Die Josefstadt ist mal so, mal so: Manchmal haben die Schlümpfe die Oberhand, manchmal die Frösche. Ottakring wiederum ist chronisch grün. Da zahlt sich ein Besuch erst mit Level 8 aus, rät mir Peter. In Nebenstraßen, wo keine Busse, Straßenbahnen fahren, habe ich es als Level 6-Schlumpf leichter. Da kann ich schon mal ein Portal capturen, also erobern und versuchen, es zu halten. Das gibt Punkte. Und dann wären da noch die HP – sogenannte Heimportale. Also spezielle Orte, die – wenn es der Zufall so will – nahe an der eigenen Wohnung liegen, sodass man sie von zu Hause spielen kann. Manche tun das vom Bett aus. Andere auf der Toilette. Ich wiederum habe mit meiner Lage weniger Glück – und merke schnell: Wer ein Heimportal von einem ambitionierten Spieler angreift, kann sich sicher sein, dass der sich revanchieren wird.


01:03 AM

Your Link Der Hirschwirt (Kochgasse 14, 1080 Vienna, Austria) to Melker Hof Ostportal (Lederergasse 23, 1080 Vienna, Austria) is under attack 

01:20 AM

Your Portal Goddess (Laudongasse 20, 1080 Vienna, Austria) is under attack 


Montagmorgen, ich bin sauer. Mein Nachbar war wieder unterwegs. Sichtbar. Die Nebenstraße leuchtet grün, das schöne blaue Feld, das ich aufgebaut habe, ist weg. Offensichtlich habe ich in einem fremden Revier gewildert. Mit Liebesgrüßen kommt es jetzt zurück: Your portal was destroyed. 


Die Feindschaft zwischen den beiden Fraktionen ist übrigens keine echte. So wie ich spielen viele gegen ihren Nachbarn, manchmal wird eine böse Nachricht an den „Gegner“ geschickt. Aber nur selten wird der Krieg im Spiel real, das heißt, entstehen echte Feindschaften. Die meisten kennen sich gut, mit spieleeigenem Code- und mit echtem Namen. Hin und wieder schließen sich die beiden Teams zusammen und planen gemeinsame Aktionen. Es kommt auch vor, erzählt mir ein Schlumpf, dass einer von der gegnerischen zum Stammtisch der anderen Fraktion kommt. Dann werden ein paar gehässige Worte ausgetauscht, aber dann wird gemeinsam Bier getrunken. Die beiden Teams mögen virtuell gegeneinander kämpfen, in der realen Welt verbindet sie aber die Liebe zum Spiel.


Es ist Dienstag, seit mehr als zwei Wochen bin ich als Schlumpf in der Josefstadt unterwegs – und schon wieder zu spät. Die Umwege, die ich wegen dem Spiel nehme, kosten Zeit. Ich verpasse Grünphasen bei Ampeln, verirre mich in irgendwelchen Straßen, renne gegen Laternenmasten und remple Passanten unabsichtlich an. Mein Nachbar, den ich bis heute nicht zu Gesicht bekommen habe, erweist sich als ziemlich hartnäckiger Gegner. Mit meinen lächerlichen Level 6 habe ich keine Chance gegen ihn. Dafür stecken in den Fassaden und Hauseingängen Portale, die ich hege und pflege. Ich habe mein Grätzl, von dem ich glaubte, dass es seit zwei Jahren mein Zuhause ist, neu kennengelernt. In echt und auf dem Bildschirm – von dem ich übrigens immer seltener aufschaue. Wenn ich andere mit einem Smartphone sehe, ertappe ich mich bei den Gedanken: Bist du Freund? Bist du Feind? Checkst du nur Facebook oder greifst du gerade mein Portal an? Als ich das Peter erzähle, muss er schmunzeln. Langsam entwickelst du einen Ingress-Blick. Mal schauen, vielleicht bist du bei der nächsten Großaktion dabei? Ich zögere – und starre auf mein Smartphone. Level 6. Distance walked: 20 km. Action Points: 465,699. Inventory: almost full. Aber mein Akku ist fast leer. Schon wieder. Halb so wild – Peter und bietet mir seinen Akkupack an. Der Krieg in der Josefstadt, da kann ich mir sicher sein, der geht weiter. So, oder so.  


Abseits von Ingress ...


Turf Wars – Location Based Mafia

Verteidige deine Nachbarschaft vor anderen Gangstern und werde Mafiaboss deiner Stadt. 


Run an Empire

Das Spiel wird derzeit entwickelt, aber bald soll man auch Wien im Laufschritt erobern können.